Die Begebenheit Haigerloch - Das Bodenpersonal des lieben Gottes

von Jochen Schulz

Gerade 11 geworden, landete ich 1947, in Haigerloch und entdeckte mich, zusammen mit anderen Frischlingen, in einem völlig ungewohnten, aber nicht desto weniger sehr beeindruckenden, lebhaften Gewusel von Weißen Vätern fast aller denkbaren Chargen und Dienstgrade: Ganz unten an der Leiter: wir Schüler, sehr mit Bedacht und auch aussageträchtig ‚Zöglinge‘ genannt, die für vier Schuljahre im Haus Heim(at) und Schule, Familie und Kirche (also Himmel und Erde) suchten, und wenn ich von mir ausgehe, auch gefunden haben. Dass es anderen zur „Hölle“ wurde, das nur so nebenbei! Doch nichts desto trotz: Auch ich erlebte (die) Hölle – und das einmal im Monat und dann für eine grausame halbe Stunde. Dann nämlich, wenn wir im Rahmen des als Jour-Fix programmierten Besinnungstages (im Slang der Weißen Väter: „Monatsexerzitien“) - von behutsam bis blutrünstig, unter priesterlicher Leitung, auf unser letztes Stündlein vorbereitet wurden – im szenischen Arrangement des ganzen Programms um die letzten Dinge: dem jüngsten Gericht, drapiert mit himmlischen Wesen: den Rache-Engeln nämlich und den für uns Erbarmen heischenden Heiligen. Diese schienen sich – dem Eindruck nach - schon auf mich zu freuen, was ja durchaus löblich, aber kaum beruhigend war, weil da gleichzeitig die Vermutung mit rüber schwappte, dass man mich eigentlich schon in Bälde erwartete. Und da waren ja auch noch die Widersacher der Abteilung „Heiligkeit“. Ich meine , die bei diesem Anlass bemühten pyromanischen, schwanztragenden und gehörnten Höllenhunde, die Teufel nämlich, denen ich leider - frei nach Dante – mit meiner üppigen Monatsration an schlimmen Sünden immer wieder reichlich Brennstoff geliefert habe, um jenes Mordsfeuer zu unterhalten, in dem ich selbst mit Haut und Haar demnächst auf immer und ewig schmoren würde, wenn nicht … ja wenn da nicht die göttliche Gnade wäre, die man sich allerdings erst per Wohlbenimm verdienen müsse – um nicht doch schließlich im Feuer… und ‘schwupps! – da saß ich wieder auf dem scharfen Nagelbrett der damals gängig gehandelten Angstmoral.

Das Haus bewohnten wir gleichzeitig mit allerhand Seminaristen (‚ehrwürdige‘ Philo- und Theologieabsolventen), ein semi- bis vollklerikaler Tross, der sich mit seinem ‘hochwürdigen‘ geistigen und geistlichen Stab auf den Abmarsch in das Seminar (Trier) vorbereitete. Zum Grobzeug gehörig, konnte ich zu Beginn wahrlich beim besten Willen nicht ausmachen, was da alles, verbindlich und original, als die für uns zuständige Haigerlocher Weiße-Väter-Besatzung herum kreuchte und fleuchte. Ich wage heute einmal im Nachhinein die Behauptung: Das was sich damals am hohenzoller‘schen Standort an erwachsenen, bereits fertig ausgebildeten, wie auch die in Schlagdistanz dazu befindlichen ‚geistlichen Gefäße‘ tummelte: Sie alle waren der klägliche Rest vom Ergebnis einer Jahrzehnte langen Aufzuchtarbeit und der dafür direkt Verantwortlichen, die eine wahnwitzige Tyrannei und der von ihr angezettelte mörderische Krieg übrig gelassen hatte. Dabei sind die persönlichen Kollateralschäden noch gar nicht mitgerechnet: : Weder die zertretenen, nie wieder zu reparierenden Hoffnungen und Perspektiven, noch die persönlichen seelischen Schäden und Traumata, die die erlebte Menschenverachtung eines teuflischen Systems angerichtet hatte; auch nicht die durchgestandenen Todesängste an Frontabschnitten und in Schützengräben, die Not und Elend in Gefangenschaft und Internierungslagern, auch nicht die erfahrenen Demütigungen und Eniedrigungen, angerichtet vom satanischen Hohn und Spott sogenannter „Kameraden“ mit derselben Feldpostnummer, wegen religiöser Über-zeugungen und auch wegen der eingestielten klerikalen Berufswahl …

In diesem ganzen seelenlazarett-artigen Gemenge aus wehenden Burnussen, klerikalen Kalkleisten am Hals und kurzbehosten Schülerchen steckten dann auch die nicht nur wegen des „Suwa-Weiß“ ihrer Berufskleidung (Ganduren) als „Lichtgestalten“(und andere) in Erscheinung tretenden Lehrer, Erzieher, Beichtväter, Priester, Richter, Begleiter, Exekutivkomitäter bis zum Kinderschreck …, die zur Erledigung eines höheren Auftrages (der im einzelnen zu untersuchen wäre) auf uns angesetzt waren. Immerhin unter dem Markenzeichen und Qualitäts-Signet „Weiße Väter“ – wobei in der Nachbetrachtung für unseren damals sacht bis wild-pubertierenden „Weder- Fisch-noch-Fleischzustand“ das väterliche Element bedeutungsvoller war/ gewesen wäre. Doch bevor wir darüber in der Retorte unserer Empfindungen und Empfindlichkeiten eine spannende, neue Philosophie anrühren zur Klärung der mit dieser Frage „und wie war es denn nun mit der Väterlichkeit?“ verbundenen Schwierigkeiten, Widersprüchen, Ungereimtheiten, sollten wir möglichst unvoreingenommen sowohl Ernsthaftigkeit und Redlichkeit bei unseren Streckenlotsen von damals ausloben. Dieses für ihren Versuch um die stimmige Gleichbehandlung ihrer Schutzbefohlenen zur Förderung von menschlichem Wohlverhalten und mitmenschlichem Wohlergehen -aktuell wie zukunftsgewandt. Dabei wäre jedoch im Auge zu behalten, was ihnen die Geschichte (siehe oben) zugeschanzt und dann auch die damals von uns belegte Aktualität zugemutet hat.

(Dem anderen wichtigen Fragekomplex, warum uns der Problembereich „innere Verfassung unserer „Bändiger und in einem auch richtungsweisende Signalleuchten“ umtreibt und wir ihn nicht einfach ad acta legen, sollte an anderer Stelle unbedingt nachgegangen werden!)

Sie, unsere geistlichen Lehrer und Erzieher, kamen ursprünglich aus der eigenen Weißen-Väter-Schmiede zwischen den beiden Weltkriegen, will sagen, dass sie auf Verdacht hin auf ihren seelsorgerlich/missionarischen Einsatz in Afrika ausgebildet worden waren oder sich auf dem Weg dahin befunden haben. Auf Verdacht deswegen, weil zwischen den beiden Weltkriegen kaum ein Weißer Vater aus deutscher Produktion nach Afrika kam und darum auf „Etappenhengst“ in der Heimat machen musste. Damit war das Ziel eigentlich verfehlt, was in Kohärenz zum Leben, den Erwartungen und den dafür getätigten Investitionen durchaus folgerichtig entsprechenden Frust in die Scheune fuhr, denn es handelte sich ja immerhin um ein aufgrund widriger Umstände echt nun nicht mehr zu lebendes Leben, was wohl in der Wirkung noch vorstellbar, de facto aber für immer aus der eigenen Realität verschwand. Was das heißt, lässt sich leicht ausmachen: Der eigene, sich selbst im Zusammenwirken mit der unterstützenden und begleitenden Ursprungsfamilie abgerungene Lebensentwurf, mit seinen dafür getätigten Investitionen an Leistungen, und nicht zu vergessen: an bewusstem, bandbreitem Verzicht auf lebensbestimmende und vor allem sinnstiftende, erfüllende Bereiche (geschlechtliche, partnerschaftliche Nähe und Partnerschaft, Liebe, Ehe, Familie, Vaterschaft, Karriere im Beruf, Ansehen durch Verantwortung im Gemeinwesen, Teilnahme sowohl wie auch Teilhabe in und an der Gesellschaft…) : das alles und noch mehr im Einsatz für das zum Preis für Afrika eingehandelte Pendant - im Sog widriger Umstände total in den Eimer geklopft. Statt horizonterweiternden Umgangs mit anderen Nationalitäten und den diesen eigenen Denkweisen, wonach beispielsweise Tugend schon das Bemühen um dieselbe ist und nicht - entsprechend dem germanophilen Rigiditätsstandpunkt – erst dann beginnt, wenn man den Status der Vollkommenheit bereits erreicht hat. (Ein Grund übrigens - mit Augenzwinkern- weshalb man in Deutschland so wenig Tugendbolde findet!) Dazu kamen dann in den 3o/4o-er Jahren die ideologischen Störfeuer des Naziregimes, bei denen eine ganze Menge der persönlichen Leben stützenden Standpunkte - religiöse, gesellschaftliche politische, menschliche… unter Beschuss gerieten und harten Bewährungsproben ausgesetzt waren, vielleicht auch zum Teil, weil unbrauchbar und zu romantisch, über die Wupper gingen. Doch auch die Existenz selbst der deutschen Weiße-Väter-Provinz, und damit der Verbleib und die Versorgung ihrer Mitglieder, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen nicht der Kriegsmaschinerie verpflichtet werden konnten (fast ein Drittel des Personalbestandes wurde auf Nimmerwiedersehen ausradiert) waren infrage gestellt. So mancher, bisher auf ein sehr spezielles Kommunitätsleben Getrimmte, ‘vagabundierte‘ auf sich gestellt als Aushilfsseelsorger, in irgendeiner Pfarre oder in einem Heim herum.

Aus diesen Relikten – Invaliden mit körperlichen bzw. geistigen Blessuren, traumatisierte Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft, gnädig geduldete, unerfüllte Pfarrei-Angestellte, am Wirkungsort in Lagern Internierte, der Hoffnung Beraubte, Enttäuschte … kurz: aus dieser Schar von Malträtierten, Lädierten und darum auch berechtigterweise Frustrierten rekrutierten sich nun zunächst unsere Lehrer und Erzieher, die folgendes gemeinsam hatten:

  1. Sie alle hatten in der Zeit des Nazi-Regimes und während der Kriegszeit um ihre wertbestimmten Ideale kämpfen müssen – vermutlich hat sie ihr Einsatz um eigenes Überleben und um den Bestand ihrer existentiellen Wertvorstellungen, Ideale und deren Umsetzung in antireligiöser Gesellschaft und areligöser Umgebung über die Maßen hart gemacht, vielleicht auch taub werden lassen, so dass unsere kindlich/kindischen Anliegen für sie als ‚quantitée négligeable ‘ manchmal zum Nebenkriegsschauplatz herunter gestuft werden mussten.
  2. Sie waren selbst, samt und sonders durch die (harte) Schule der Weißen Väter gegangen – aus eigenem Erleben kannten sie den Heim- und Schulbetrieb aus dem EF-EF, mit ein Grund damals, sie zur Weitergabe des geistlichen „Weiße-Väter-Erbes“ auf Jüngere loszulassen. Auch kamen manche - wie die Mutter zum Kind - zum ‘Fortpflanzungsauftrag‘ für die besagte Erbmasse, weil sie ein Betätigungsfeld benötigten, adäquat zum einst angestrebten Evan-gelisierungsauftrag. Die Frage bleibt neben anderen: Wie sie die selbstgemachten, mit eigener Seele erlebten schlechten Erfahrungen der ‘Aufzucht‘- wenn sie denn welche hatten - im praktischen Vollzug verarbeitet haben? Gar mancher von ihnen hatte in der Tat mehr Glück als jene, von denen man behauptet, sie hätten aus den Fehlern ihrer Altvorderen lernen wollen, wie man es nicht macht, seien dann aber recht schnell wieder auf die alten Trampelpfade zurückgekehrt, weil diese ja - bei weit weniger Eigenmühe– doch auch zielführend gewesen seien.
  3. Sie sind - bis auf wenige Ausnahmen - ihrem übernommenen Auftrag (schulische Unterrichtung, pädagogische Begleitung, seelsorgerliche Betreuung…) nicht nur formal - so gut wie sie konnten, von phantasielos bis begabt, nachgekommen; beflügelt von ihrer inneren Einstellung und im konkreten Vollzug – ganz nach dem Muster der Altvorderen. Ob als Naturtalente, auch die gab es (wie bei den Lehrern auf freier Wildbahn auch) immer wieder), oder ob in autodidakten Kraftanstrengungen erworben – darüber jedoch muss mangels Hintergrundwissen des Sängers Höflichkeit den Mund halten.
  4. Anerkennend sei der bisher nirgendwo aufgetauchte Hinweis, dass man die Patres an so manchen Wochenenden und Feiertagen in der näheren Umgebung im Seelsorge-Einsatz (Aushilfe) sehen konnte, um die sicherlich angespannte Heimkasse zu unserem Wohl aufzubessern, um für Afrika und unseren Kartoffelkeller zu kötten, auch um für „den eigenen Nachwuchs “ zu werben… alles nach nicht unbedingt leichtem Wochenbetrieb mit uns in Heim- und Schule. Auch körperlicher Einsatz (z.B. bei der Heuernte, Einkellern von Kartoffeln im Herbst, Jauchefahren bei der Feldbestellung…) war ihnen nicht fremd. Dazu kam noch jenes gerüttete Maß an geistlichen Übungen (Zelebration, Breviergebet, Meditation…), das über das unsere, was schon nicht von schlechten Eltern war, weit hinausging.
  5. ‘Erziehung‘ erlebten wir fast durchgängig als verbalisierten Drohprozess („Wer sich nicht fügt, der fliegt!“), weniger als menschliche Zuwendung in Form von Streicheleinheiten, körperlich (durch anerkennenden Knuff in die Rippen z.B.) schon gar nicht. Lob und Zeichen der Anerkennung oder Ermutigung? Ja, es hat sie gegeben: ängstlich verhalten und eher andeutungsweise. Durch Betreiben/Dulden der Heimleitung lange Jahrzehnte über standen die Verletzungen der für den ordentlichen Ablauf eines Internatslebens unabdingbaren Spielregeln als Regulativ eines dichten Zusammenlebens in der Einschätzung unseres kindliches Gemütes dem moralischen Gewicht der von Gott überreichten Mosestafeln vom Sinai kaum nach. Beweis dafür: Die Missachtung der vorgeschriebenen, enorm langen Schweigezeiten (großes und kleines Silentium) erfuhren in unserem Alltag - den Monierungen nach - eine größere Gewichtung als ein Faux-pas gegen die Nächstenliebe! Und dann gab es ja auch noch die bei der Überreichung der Gesetzestafeln an Moses die von oben arrangierte Begleitmusik - sprich: Die zur Verkündung der 1o Gebote am Berg Sinai gehörigen Donnerwetter, mit denen Gott damals seinem Willen Nachdruck verliehen hatte. Diese nannten sich bei uns in verbal anderslautender Fassung: „Geistliche Lesung“, euphämistischer Begriff für „Leviten-Lesen!“, wonach wir nicht gerade Satansbraten und Höllenbrut, aber doch ganz gehörig sündig gewesen sein mussten.
  6. Allerdings wurden wir nicht – von den damals auch noch in Elternhäusern, Sakristeien, Schulhöfen… gängigen Backpfeifen mal abgesehen (siehe „Schlagseiten‘, in Festschrift 111) – auf den Weg der Tugend geprügelt oder darauf gehalten. Doch war die praktizierte, „psychologisch geführte Erziehung“ (in Anführungszeichen) von ihrer Wirkung her grausamer, traf sie doch, anders als der leibliche Schmerz, direkt in das Zentrum der Sensibilität (Erleben der eigenen Hilflosigkeit und Peinlichkeit durch Bloßstellung vor anderen). Die Angst, bei Fehlverhalten rausgeschmissen zu werden, auch mit allen Konsequenzen in Folge, förderte die Unehrlichkeit; Die totale Überwachung (ausgenommen: die Toilette) rund um die Uhr hatte die negative Wirkung von Verdächtigung, Argwohn und mangelndem Vertrauen. Ausgang nur im Corso und unter Beaufsichtigung, die Bloßstellung (Pranger) in der Gruppe bei Fehlverhalten, die Praxis, Musterschüler als Überwachungspersonal den eigenen Kumpels vorzusetzen… ob all dieser genannten strategisch eingesetzten, psychologisch wirkenden Maßnahmen bei „uns vom passiven Ufer“ den in sie gesetzten pädagogischen Sinn einer „Überzeugung für die richtige Richtung in dafür angemessener Weise“ erfüllt haben, oder ob sie nicht unter anderem eher einer „opportunen, auf Gefallen ausgelegten äußeren Anpassung an die Gegebenheiten“ Vorschub leisteten, um zu überleben“, oder ob sie gar bleibende Schäden angerichtet haben , das kann nur jeder am Prozess Beteiligte an sich selbst ermessen und für sich selbst beantworten. Für die Erzieher jedoch, und um die geht es hier vorranging, waren sie, bei heutigem Licht besehen, die fast pure Offenbarung der eigenen Ohnmacht, sanktioniert durch die Duldung im System. Und dann steht da ja auch immer noch und vorrangig die Beantwortung der Frage an unsre Lehrer und Erzieher von damals im Raum, wie sie selbst mit ihrem Erziehungsauftrag innerlich fertig geworden sind: Worin der übernommene Auftrag bestanden hat (dem Menschen oder der Sache dienend?), mit welcher inneren Einstellung man diesem nachgekommen konnte, welchen Stellenwert dabei der „zu Erziehende“ im Vergleich zur Bedeutung des Auftrages für den Erziehenden hatte – also mit Blick auf den, der den Auftrag im Gehorsam – also ohne Rücksicht auf, oder sogar gegen: Wunsch, Neigung, Bedenken, Verant-wortung für andere - übernommen hat? Fragen über Fragen, die man heute leider aufs Grab derer legen muss, die sie allein als direkt davon Betroffene beantworten könnten. Was sich jedoch klären lässt und darum sollen wir es auch tun – was wir noch eruieren können, ist das Geheimnis, wie es die „Leidtragenden“ selber gesehen, gefühlt, verdaut haben, sie, für die ja im Grunde die Veranstaltung „Erziehung bei den Weißen Vätern“ doch inszeniert worden ist und aufgeführt wurde.
  7. Die Patres in Haigerloch fungierten fast ausschließlich im frontalen, kontra-hentalen Schulbetrieb als Lehrer und im auch nicht kollegial oder familiär verfassten Heimbetrieb als Aufsichts- und Überwachungspersonal (in Pausen, im Speisesaal, auf Spaziergängen, beim Kontrollgang in Lernräumen und Schlafsälen…). Ganz selten erlebten wir sie als Initiativträger für Aktionen, Interaktionen und Prozesse – außer in den über Gebühr auferlegten Gottesdiensten, dem wöchentlich vorgeschriebenen Beichtgang, den außerschulischen Choral- und Chorübungen und bei der Handarbeit. Ansonsten waren wir für unsere Freizeit-und Pausengestaltung und die Initiativschübe in den kurz bemessenen Mittags- und Abendpausen uns selbst überlassen, was sicherlich der eigenen Kreativität Auftrieb gab. (Der Radiomann lässt grüßen!- siehe Festschrift 111, Seite …ff.)
    (Aus Krotzenburg fallen mir ein - im erfreulichen Kontrast zu den Erziehungsstatisten von Haigerloch - die Patres August Freckmann (Theater, Gitarrengruppe, Gedichte-Abende am Lagerfeuer) und Karl Jetter (Fußball und Tischtennis)).
    7. Ob die Verquickung von Heimerziehung und Schulbetrieb für unsere Entwicklung und für das Wohlgefühl im Hause günstig war, wage ich heute zu bezweifeln. Damals wurde es unreflektiert (wie hätten wir auch anders?) als gottgegeben hingenommen, wie so manches, was man heute in der vorrangigen Orientierung von am Menschen selbst gewonnenen Erfahrungswerten gründlicher thematisiert, kritischer beäugt und anders bewertet. (Übrigens sind seit meiner Haigerloch-Zeit ganz allgemein die allermeisten privaten Lebensbereiche sehr viel öffentlicher geworden – durch Kollegialisierung von Einzelinteressen und durch Medialisierung. Da unsere Lehrer gleichzeitig auch unsere Heimerzieher waren, wurden im Unterricht häufig Bereiche angesprochen, die eigentlich dem Heimleben zuzuordnen waren. (Die halbjährlich per Schulzeugnis verpassten Betragungsnoten wiesen fast ausschließlich den Benimm im Heim aus.)
    Die Rolle des dozierenden, zensierenden, korrigierenden Lehrers ist bis auf bestimmte Schnittmengen grundsätzlich eine andere als die des die persönliche Entwicklung eines jungen Menschen begleitende und steuernde des Erziehers, haben doch die beiden unterschiedlichen Lebensbereiche je eigene Ziele. Schulische Reife ist nicht identisch mit sittliche Reife, sie führen bei Vermengung zu Irritationen für Heim-, bzw. Schulpersonal, aber besonders auch bei den Epheben. (Es bedurfte manchen seelischen Klimmzuges für einen jungen Menschen unseres Alters damals, nach dem in der Klasse wegen einer vergeigten Klassenarbeit stattgefundenem Tribunals sofort das natürliche Schamgefühl wegen Versagens auf Null zu schalten und dem mit dem Lehrer identischen Erzieher vorbehaltlos zu begegnen. Man ging ihm eher aus dem Weg. Auch für den zeitgleich als Erzieher fungierenden Lehrer war der Kraftakt kaum zu stemmen, einen Schüler wegen der mangelhaften Leistung regelgerecht zurecht zu weisen und gleichzeitig als Mensch aufzubauen.)
    Hier wäre auch die als damals ungeheuer wichtig einzustufende Dauer-betriebsstelle „Beichtstuhl“ anzuführen, wo der Beichtvater in der sinngebenden Bedeutung des Sakramentes weder Lehrer noch Erzieher sein durfte, sondern als Vermittler der Gnade in der Veranstaltungsform echter Vergebung dem „bekennenden Sünder“ -ehedem „Beichtiger“- das Bewusstsein von Gottes Barmherzigkeit glaubwürdig und nachhaltig zu vermitteln hatte; er, der vielleicht selbst Grund und Inhalt einer erhobenen Anklage gewesen ist. (Aus diesem Grunde fand zu meiner Zeit der ausschließlich für die wirtschaftlichen Belange des Hauses zuständige „Pater Ökonom“ besonderen Zuspruch als Beichtvater). Mir - ich meine: meiner eh nicht schwach entwickelte Phantasie – hat das wöchentliche Sündengeständnis damals Nahrung gegeben, um über immer neu auszubaldovernde Formulierungskünste Sünden nicht zu bekennen, sondern eher – und fast immer unwidersprochen - zu verschleiern.
Zum Schluss: (Ich möchte bitten, nur die Form zu beanstanden!) < Hiermit erkläre ich unter Eid:
„Mit dem hier vorgelegen Text reite ich keine revanchistische Abrechnung gegen meine zahlreichen Lehrer, Erzieher und Beichtväter, die bis auf wenige Ausnahmen weder Anlass noch Grund dazu gegeben haben. Vielmehr zolle ich im Gegenteil vollen Respekt denen, die bei zerdeppertem, afrika-orientiertem Lebenstraum und den von uns strapazierten Nerven mit den sich ihnen bietenden Möglichkeiten, mit den ihnen gegebenen Fähigkeiten und mit ihren dazu gewonnenen Fertigkeiten in Sorge, Mühe und Zuwendung sich um uns pubertären Wilden gekümmert haben, uns also erzieherisch so gut sie konnten/ und durften! begleitet und schulisch versorgt haben. So wahr mir … !“

Jochen Schulz

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