Fehlverhalten - Entwarnung für Haigerloch?

Nachdem der Jesuitenpater Mertes 2010 vom Berliner Canisiuskolleg den Missbrauch öffentlich gemacht hatte, rollte eine Welle Veröffentlichungen über derartiges skandalöses Fehlverhalten durch die Medienlandschaft: Presseberichte, Rundfunkkommentare, Fernsehtalks und vieles mehr zeigen ein enormes Interesse an diesen Ereignissen. Auch die deutsche Bischofskonferenz wurde wach und bestimmte einen Missbrauchsbeauftragten, den Trierer Bischof Ackermann. Alle kirchlichen Einrichtungen, insbesondere die für Kinder und Jugendlich wurden nun genau unter die Lupe genommen. Und es kamen Dinge zum Vorschein, die man eigentlich nicht vermutet hätte, als besonderes Beispiel sei die evangelische Odenwaldschule angeführt. Heute nach 10 Jahren muss die Kirche sich immer noch mit dieser Thematik auseinandersetzen. So hat der noch recht junge Mainzer Bischof Kohlgraf mit Unterstützung des Regensburger Anwaltes Ulrich Weber kürzlich eine Initiative gestartet, mit der Bitte an alle Betroffenen von sexueller Gewalt; sie mögen alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu der Aufklärung der im Raum der katholischen Kirche begangenen Untaten beizutragen. Immer wieder werden in diesem Zusammenhang auch kirchliche, klösterliche Internate als mögliche Tatorte genannt. Vor daher scheint es geboten, auch über die entsprechende Situation in Haigerloch bzw. Großkrotzenburg nachzudenken. Ich glaube nicht, dass es hierüber Akten oder irgendwelche schriftlichen Unterlagen gibt. Eines kann ich aber mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich keine derartigen Übergriffe auch nur annähernd in den von mir besuchten Missionshäusern erlebt habe. Bei einem unserer letzten Klassentreffen habe ich eine Diskussion über diese Thematik angestoßen und von meinen Mitschülern das Gleiche erfahren, was ich selbst erlebt habe.
Das Thema „Gewalt“, auch sexuelle Gewalt, wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder genannt. Gerade kürzlich wurde diese Thematik mit einem kirchlichen Internat des Bistums Trier in der Eifel sowie mit dem Benediktiner-Internat Ettal u.a. in Verbindung gebracht. Da ist die Rede von Schülern, die zur Strafe in eine Telefonzelle eingesperrt wurden, verprügelt, unmenschlich behandelt wurden. Von daher ist es berechtigt, auch unter diesem Aspekt unsere Weiße-Väter-Vergangenheit zu untersuchen. Richtig ist, dass in den Missionshäusern einige Patres körperliche Züchtigungen vorgenommen haben. Zwei Fälle sind mir noch in Erinnerung. Es gab einen P. Meyer, bei dem wir in Quarta, also etwa 1957, in Haigerloch Biologie hatten. Er rastet aus, wenn ein Schüler während seines Unterrichtes das Pult öffnen wollte. So hatten wir auch einen Schüler Gerd M., der aus irgendeinem Grund einmal heimlich sein Pult während der Unterrichtsstunde unbedingt öffnen musste. Dies hat P. Meyer gesehen und ihn vor der Klasse dann blutig geschlagen. Wir waren alle empört und Meyer hat ab sofort den Beinamen „Schläger“. Auch P. Vogt und anderen ist gelegentlich „die Hand ausgerutscht“. Ich erinnere mich noch an eine Szene mit P. Buse 1958. Damals war es üblich, dass zur großen Pause vor der Küche ein Korb mit Brötchen o.ä. stand. Beim Schellen stürmten natürlich die Schüler alle zu diesem Korb, um sich einen Leckerbissen herauszuholen. An einem Tag stand P. Buse – zu dieser Zeit Ökonom – und beobachtete die Meute, die über die Köstlichkeiten herfiel. Den ersten besten, nämlich Joachim B. schnappte sich Buse und verprügelt ihn nach Strich und Faden, dass er letztlich heulend am Boden lag. Oder da war ein älterer Lehrer, der Vater eines Paters, der mit seiner Frau für ein paar Monate im Missionshaus wohnte und dafür Unterricht erteilte. Als alter Volksschulpauker ging es natürlich auch nicht ohne Schläge ab; er kam einmal morgens in die Klasse, stellte sich vor einen Schüler und fragte: „Was haben wir heut‘?“ Der verdutzte Schüler wusste natürlich nicht, dass der alte Pauker die Antwort „Krieg“ erwartete. Aber um so schneller hatte er eine saftige Backpfeife. Insgesamt muss ich sagen, waren dies eher die Ausnahmen. Diese rüden Erziehungsmethoden entsprachen dem Erziehungsstil der 50-er Jahre. Und an von mir besuchten staatlichen Schulen habe ich das auch in den verschiedensten Varianten erlebt. Im Lauf der 60-er Jahre hat sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch eine Veränderung im Bereich der Pädagogik durchgesetzt.
Freilich, was ich oben aufgeführt habe, beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen. Es muss aber so gesagt sein! Mag sein, dass andere Zöglinge andere Erlebnisse und Erfahrungen gesammelt haben. Vieles ist vergessen, manches bewusst verdrängt, anderes ist manchem peinlich. Und manchem mag es sinnvoll sein, darüber zu schweigen oder das Ganze ein für allemal ruhen zu lassen. Andererseits ist es richtig und gut, dass die Kirche bzw. deren Vertreter ihr Fehlverhalten zugeben und die sog. Würdenträger merken, auf welchen Untaten und Scheinheiligkeiten ihr geistliches Gebäude ruht. Hier müssen Konsequenzen gezogen werden, denn vieles in der Kirche muss auf den Prüfstand. Man sagt zwar, die Zeit heilt alle Wunden. Aber die Wunden müssen erstmal als solche erkannt werde.

Stadecken, den 17.11.2020
Hajo Stenger

Zurück zu Erinnerungen