Alltag im Missionshaus
Der Alltag im Missionshaus war streng
geregelt. Bis auf zwei Ausnahmen, nämlich die einstündige Mittagspause und
die halbstündige Abenderholung, war das Tun der Missionsschüler in jeder
Minute genau definiert. Einerseits war dies eine Hilfe, den Tag sinnvoll zu
verbringen und keine Zeit zu vergeuden, andererseits barg dies die Gefahrvon
Monotonie und Langweile. Hinzu kamen die strengen Kontrollen, die das
Einhalten der Regeln genau überwachten.
Schon beim Aufstehen, Waschen und
Anziehen schlich immer wieder ein Pater durch Räume und Gänge und sorgte
für Ordnung und Zucht. In der Kapelle war es Gott höchstpersönlich, der
sein wachendes Auge auf die Eleven warf; im Speisesaal saß immer mindestens
ein Pater vorn am Patrestisch und achtete auf das Geschehen im Saal.
Die
Schule hatte ihr eigenes Ordnungssystem - Lehrer und Aufgaben - und während
der sogenannten Studienzeiten saß vorn am Pult ein Schüler einer oberen
Klasse und bewachte die Kleineren. Wo nicht eine Person diese
Überwachungsaufgabe übernahm, war es das eigene Gewissen, das durch diverse
Adhortationen, z.B. in der morgendlichen Ansprache, in der Geistlichen
Lesung u.a.m., die Knäblein auf den rechten Weg brachte.
Wie konnte nun der jedem Pubertierenden innewohnende Taten- und
Freiheitsdrang gebändigt werden? Wo war das nötige Ventil
für Ungebundenheit und Erkundungslust? Sicher hatte da jeder seine
eigene Variante: Manche versteckten beispielsweise Krimis in
Schulbuchumschlägen, um sie in der Studienzeit unbemerkt zu
lesen, andere träumten nach dem Motto Die Gedanken sind frei,
wieder andere beschäftigten sich endlos mit ihrem
Lieblingsfach. Und so hatte fast jeder seinen eigenen Weg gefunden.
Freilich erinnere ich mich an Klassenkameraden, die auch immer
genau das taten, was das Hier und Jetzt von ihnen verlangte. Da
habe ich einen Mitschüler besonders in Erinnerung. Der ist heute
Weißer Vater in Westafrika.
Für mich bestand eine
Ablenkungsmöglichkeit darin, dass ich meine Gedanken und
Sehnsüchte niederschrieb. Ein Tagebuch konnte das nicht sein, denn das wäre
aufgefallen und vom Aufseher entdeckt wäre das etwa bei irgendeinem Pater
gelandet und hätte möglicherweise zum Ausschluss geführt. Und so schrieb
ich gelegentlich Theaterstücke. Im Verfassen kleiner Abhandlungen war ich
schon geübt, denn bereits als 11jähriger hatte ich damals noch in Frankfurt
lebend ein Minibändchen über unsere Pfarrkirche abgefasst, gut illustriert
mit zahlreichen bunten Bildern, sowie einige Fastnachtsgeschichten und
Büttenreden – mein Vater war aktiver Karnevalist und Ministerpräsident
eines großen Frankfurt Karnevalsvereins. Das Malen konnte man natürlich
auch nicht im Studiensaal machen, das hätte den Aufseher irritiert und man
hätte nachweisen müssen, dass diese Gemälde für den Kunstunterricht sind.
Aber Malen und Kunstunterrichtstunden gab es meines Wissens in Haigerloch
nicht regelmäßig; erst in Großkrotzenburg eröffnete sich diese
abwechslungsreiche Variante.
Vor einiger Zeit wurde bereits mein kleines
Bändchen Fiat voluntas tua bei den Klepfern eingestellt. Heute berichte ich
von einem kleinen Theaterstück "Das Extemporale". Wahrscheinlich sind wir
damals von den beeindruckenden Theateraufführungen, die Deutschlehrer P.
Freckmann (PAF) immer wieder perfekt und höchst erfolgreich inszenierte, zu
derartigen Schöpfungen inspiriert worden. Das Stück greift den zentrale
Inhalt unseres damaligen Lebens als Schüler auf: Das Leben im Schulalltag.
Es tangiert die alltäglichen Probleme: Lernen, Klassenarbeiten,
unbefriedigender Schulerfolg. Und da keimt dann schon einmal der Traum auf,
wie könnt man einen Schulerfolg erreichen, ohne hart dafür zu lernen. Da
hilf dann nur ein an Wunder grenzendes Ereignis, wie es in dem Dreiakter
aufgezeigt wird. Dass keine Patres als Lehrer vorkommen, obwohl meist diese
uns unterrichtet haben, ist mehr als verständlich, wir wollten uns doch
nicht selbst kompromittieren und damit eventuell uns den Zorn eines unserer
Vorgesetzten zuziehen. Das hätte möglicherweise fatale Folgen gehabt. Die
auftretenden Personen spiegeln Eigenschaften einiger Mitschüler, so der
sich recht professoral gebende Professor Tünkel zeigt charakteristische
Merkmale unseres Mitschülers Theo Stüer, der leider schon verstorben ist.
In anderen Personen scheinen weitere Klassenkameraden durch: Diener Johann
Franz Lienen, Sohn Egidius Günther Mayer, Schüler Zoro Hubert Bonke,
Schüler Ohm Heinrich Parusel, Schüler Becci Franz Josef Eulenbach, Schüler
Tango Werner Wanzura, Schüler Mike Albert Schrenk. Ich selbst hatte die
Rolle Charlie Papp. Mehrfach hatten wir für dieses Stück geübt, ob es dann
letztendlich aber aufgeführt wurde, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich
erinnere mich nur noch, dass manche Mitschüler immer wieder mal
aufbegehrten, da sie sich nicht selbst spielen wollten und so etwas von
ihrem Charakter öffentlich preisgeben wollten. Der Text enthält Logien, die
von Patres und Mitschülern damals gelegentlich benutzt wurden, so z.B.
Halbstarkenmanieren, antichambrieren, corpus maledictum u.a.m. Und auch die
damals typischen Pennälerwitze kommen vor, z.B. frei, freier, Standesamt.
Wunschdenken und -glauben der Knaben zeigen sich in der Abhandlung: Einmal
dass man eine geschriebene Klassenarbeit a posteriori noch verbessern kann
und dass die Notengebung in gewisser Weise eine Glücksache ist und von
nicht sachgerechten Fakten abhängig ist. Der Original-Text steht in einem DIN A
6-Bändchen, das perfekt buchbindertechnisch aufgemacht ist. Leider gab es
damals noch keine Kopiergeräte und ähnliche Vervielfältigungsmöglichkeiten;
alles musste mühsam mit der Schreibmaschine geschrieben werden. Diese
Arbeit hat Günter Welde geleistet, wie auf der Schluss-Rückseite vermerkt
ist. Es gab aber in der Kreuzburg Großkrotzenburg eine gute, kleine
Buchbinderwerkstatt und hier ließen sich die Heftchen äußerlich recht
professionell zusammenbinden.
Und nun viel Spaß bei der Lektüre von "Das
Extemporale" : honi soit qui mal y pense
21.2.2016
Dr. Hajo Stenger
Update 1.1.2017: Inzwischen wurde eine Tonbandaufnahme eines Teils des "Extemporale"
von Hajo digitalisert. Sie ist
hier zu hören
Die Rollen:
- Prof. Tünkel - Theo Stüer (+)
- Charlie Papp - Hajo Stenger
- Sohn Egidius - Franz Hohmann
- Tango - Werner Wanzura
- Mike: Albert Schrenk