Wir sind das Fußvolk (Teil 1. - eine Status- und Standortbestimmung)

von Jochen Schulz

Möglich, dass die älteren Vertreter der Menschheit eher, mehr und anders mit den Fragen um das menschliche Leben und dem so darum herum umgehen, weil sowohl das Ende der Fahnenstange als auch die erschöpfend ultimative Antwort – selbst dann, wenn einiges nicht normal verläuft - für sie doch viel „demnächster“ anstehen als bei Jüngeren. Wichtig dabei ist immer das Ergebnis: Der Wahrheit die Ehre und - bezogen auf unser Thema - den Akteuren angemessene Anerkennung für ihren auf innerer Einstellung gründendem Einsatz. Als Akteure sind gemeint: Die sowohl ‘Idee und Philosophie,‘ berappenden, als auch Ideale und Fanale setzenden Gründer/ Stifter; dann die verantwortlich zeichnenden Leitungsstäbe, und schließlich das Tag und Nacht mit Umsetzung, Ausführung und Verwirklichung beschäftigte Bodenpersonal. (Ende der Durchsage!)

Rangieren die vom Bodenpersonal auch als Letzte in der Aufzählung, so stehen sie für uns jedoch in der Hierarchieschlange in puncto Stellenwert ganz vorne. Denn als Vorturner für uns, das gemeine Fußvolk, hatten sie eine Riesen-Verantwortung zu schultern für „junges, sich erst noch gestaltendes Leben“, in Observanz dessen Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Dies immerhin seit der Erbauung Haigerloch’s, also über ein halbes Jahrhundert lang – was ihre hohe Bedeutung für uns begründet und dem zufolge unseren dieser erbrachten Leistung angemessenen Respekt - trotz mancher Auffälligkeit bei der Operationalisierung ihrer Aufgabe. Man würde jedoch denen vom Bodenpersonal keinen Dienst erweisen, wollte man die Fehlleistungen unter den Teppich kehren, denn schließlich schwelen diese dennoch, mehr oder weniger auffällig, im Bewusstsein von mehr als nur einigen und pochen auf Verarbeitung im Gesamtkomplex, wo sie in keinem Verhältnis stehen zum positiv Geleisteten. Bleibt aktuell zu beobachten, dass alles mit besonderer Sensibilität beäugt wird, was Kirche von sich selbst aufdeckt und auch andere von ihr zu Tage fördern, was nicht in Konformität mit ihren eigenen Grundpositionen und -werten, Prinzipien, Handlungsanweisungen und Rubriken steht. Ein im ersten Sinn des Wortes „gründlicher“ Blick auch auf die eher schattige Seite der zur ganzheitlichen Ertüchtigung junger Menschen eingerichtete Haigerlocher Kampfsportstätte (siehe Fan-Song aus dem „Kirchenlied: : „Wir sind im Kampfe Tag und Nacht…“); schmälert kaum die damals generell gesetzten positiven Effekte – im Gegenteil: Sie unterstreichen kontrastierend deren hohen Wert und Anteil -bei zugebenermaßen unterschiedlicher Betroffenheit der „Leistungs-empfänger“. Auch sollte man berücksichtigen, dass Anomalien ihres ‚publikativeren und eher lustbetonten Sensationswertes‘ wegen in der Retrospektion eher ausgepackt und verkasematuckelt werden -ähnlich wie beim Smal-Talk aufgewärmten Heldentaten und auch die eigenen Streiche gegenüber ganz normalem, regelkonformem Handeln. Auch muss man die Ursachen der von uns konstatierten Schwächen - und dies zugegebenermaßen mit der ihr übrigens auch erst im Zurückschauen inzwischen zugewachsenen Aufmerksamkeit - wohl eher suchen in den Webfehlern des Systems – und damit weniger in der Verantwortung des exekutierenden Managements, das heißt: In der damit konstatierten Unzulänglichkeit der dieser Exekutive übergeordneten, weisungsbefugten Ebene. Und wenn schon Ursachenforschung mit Fehlersuche, dann ist da ja auch noch der für jede Art von „Erziehung “ breit aufgestellte Zeitgeist, wie das Ergebnis eines Quer-Vergleichs der Parallelität im Handeln und der es bestimmenden Grundsätze in Familie, Schule, Kirche… hergibt. (Leider spart die Festschrift zum 111. Bestehen von Haigerloch das dazu lesenswerte Essay von Raimund Pousset „Die Pädagogik in Haigerloch“ aus - siehe Klepfer-Portal von Alfred Epple - eine wirklich ergiebige, unprätentiöse Quelle zu diesem Thema.)

Die Letzten beißen bekanntlich und nach phrasenschwein-aequater Aussage die Hunde. Diesmal sind wir selbst diese Hunde, die wir uns selbst ein paar Zeilen lang, als Teil des Fußvolkes, in das Fußvolk verbeißen: auf Deutsch: Wir beschäftigen uns mit uns selbst! (Dazu die ganz große Bitte an alle, die noch etwas dazu auf Pfanne oder Seele haben, es doch auf den Schirm von Freddy zu legen, damit wir nicht mangels fröhlichem ‚Such & Find‘ schließlich dann doch noch beim Kritikastern landen. Das „Warum“ der Selbstbeschäftigung ist flott geklärt: Wir selbst haben auch wir für und in einer bestimmten Zeit dieses Fußvolk gestellt/ausgemacht und wurden damit quasi als Weg- und Leidensgefährten Teil der Kolonne aller Ehemaligen, die sich fünf Jahrzehnte lang rund um die beiden Weltkriege gruppiert. Sie reklamiert, wenn ich es recht verstehe, dieses „Wir Ehemalige“ wie einen eigenen Status für sich, weil sie in der Kolonne immer „Ehemalige“ geblieben und nie zum Bodenpersonal avanciert sind. Also: „Wir sind das Fußvolk“, ein tolles Plagiat, abgewandelt aus renommierter Vorlage, die sich gut ausnehmen würde als Lust- bzw. Kampfgeschrei bei Demonstrationen und als provozierende, animierende Zeile auf Schriftbändern! Doch wen sollten wir denn provozieren wollen und wogegen oder wofür denn demonstrieren? Selbst wenn da Ungeheuerliches zu beanstanden und publik zu machen (gewesen) wäre, … der Zug ist schon lange abgefahren, die Wunden geleckt und geheilt, und die wirklich mangels Möglichkeiten irreparablen Schadstellen sollten nicht Vergessen, sondern nachgefragtes Vergeben finden. Was wir allerdings hier in Folge versuchen sollten – und dies vor allem mit Selbsterkennungswert für uns selbst: „Ein „Selfi“ von uns selber zu schießen als Gruppenbild mit Hintergrund!“ -Versuchen wir’s doch!

Die Behauptung, dass wir „die Knäblein“, ganz unten an der Hierarchieleiter, damals die Allerwichtigsten gewesen sind, hat aber auch rein gar nichts mit überzüchtetem Selbstwertgefühl zu tun. Aus der damals tagtäglichen Omnipräsenz der uns Vorgesetzten im Tagesbetrieb (und je nach Verfehlung auch in den Gehirnwindungen) lässt sich heute unsere Bedeutung erahnen, aber auch erst heute, denn der konkrete Umgang damals und auch die eigene Befindlichkeit sprachen eine ganz andere Sprache. (So kann man sich täuschen!) Unsere streng auf Befehl und Gehorsam gebürstete Erziehung, wobei Gehorsam Weg und auch Ziel in einem war, machte nur Sinn, wenn sie getragen war von einer speziellen, auf eine auf eine bestimmte innere Einstellung gestützte Frömmigkeit. Diese situations- und vielleicht auch in Nuancen zielbedingte religiöse Haltung wiederum hatte Demut und Bescheidenheit mit im Gepäck, auch weil so nur der Gehorsam greifen konnte. Also von wegen vor Selbstwert und Wichtigkeit geschwellte Brust! – die war da nicht!

Und dennoch waren wir vom Fußvolk – ohne Stuss - die Allerwichtigsten, denn nur unseretwegen und für uns war das ganze ‘Unternehmen Haigerloch‘ überhaupt erst angeleiert und ans Laufen gebracht worden. Für uns musste (auch das sollte man einmal sehen!), also für uns mussten unsere geistlichen Begleiter Tag und Nacht parat stehen, über uns haben sich ganze Leitungsstäbe in Zentralen Jahrzehnte lang - mit Blick auf das große Ziel und auf uns als potentielle Erfolgsgaranten - die Köpfe zerbrochen, ständig Kraft mobilisiert und Finanzen akquiriert. Vermutlich waren wir schon damals bei Lavigerie’s Gründung latent mit dabei, als es darum ging, mit welchen Soldaten er denn seine geplanten Schlachten nicht nur schlagen, sondern vor allem gewinnen wollte. Also „Fußvolk“, nicht ein amorpher, armseliger Haufen, an dem man sich die Füße abtritt, denn schließlich wollte man ja ganz viel von uns, was wir ja auch von Anfang an und in Menge geliefert haben: Unseren guten Willen nämlich und die ehrliche Bereitschaft, uns nach bestem Wissen und Gewissen, das heißt: in kindlich/jugendlicher Überzeugung und in Akzeptanz der bestehenden Bedingungen für eine lebensfüllende - sowohl erfüllende (sinnvolle), wie auch ausfüllende (persönliche Erwartung und Ausstattung entsprechende) Aufgabe, bei noch recht verschwommenen Konturen und Zielvorstellungen, auf den Weg zu machen – der alles andere als ein Wunschkonzert war.

Zu der hier versuchten Bestandsaufnahme gehört der Vollständigkeit halber, aber mehr noch aus Gründen einer reflektierten Betroffenheit, der kleine Moment eines Gedankens an unseren Status als Ehemalige aus dem Hort unserer Wahl gefallene „Nestlinge‘, die wir ja in der Tat auch waren, wenn wir Haigerloch freiwillig oder gezwungener Maßen verlassen mussten. Was das mit sich gebracht hat, wissen alle, die aus einem fast hermetisch geschlossenen System kommen, wo nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken persönlichkeits-prägend und verbindlich vorgeben ist. Der Ausstieg musste in der Tat für die meisten, bei denen die Erfahrung und Einsicht bis dato noch nicht ausreichend „Hornhaut“ auf der Seele gebildet hatten, schwer gewesen sein und vielleicht sogar seelische Schäden fabriziert haben, wenn da plötzlich die alte Ursprungfamilie Familie nicht mehr Heimat und Geborgenheit bot, wenn sogar die Allernächsten kein Verständnis für eine aus innerer Not heraus und alles andere als leicht getroffene Entscheidung aufbrachten, wenn ein in Haigerloch Ausgeschiedener sich in seiner früher vertrauten, kleinen Gesellschaft nicht mehr zurecht fand oder dort als Loser gehandelt/behandelt wurde. Dazu kam der auch nur schwer zu ertragende Umstand, dass man die einst begeistert gefällte Entscheidung für einen exotischen Weg (mit Blick auf den Ernst, mit dem dieser gepflastert wurde) im Nachhinein wie einen Wurm im Gewissen erleben und ertragen musste, mit entsprechenden Zweifeln an die eigene Adresse. Je nach innerer Verfasstheit und aktueller Betroffenheit konnten da konsequenterweise Wut und Enttäuschung ins Kraut schießen über jene, deren Führung man sich in guter Absicht anvertraut hatte, von denen man sich aber nicht nur allein gelassen fühlte, sondern oft sogar als Abtrünniger eingestuft oder wegen Ansteckungsgefahr wie ein Pestkranker gemieden wurde.

Zum Glück für die Betroffenen, doch vor allem zugunsten des Ansehens der Weißen Väter hat sich dies unter den Superioren Willi Dreher/Fridolin Bogenrieder mit dem Segen des Provinzials Ernst Behrens grundsätzlich zum Guten gewendet. Die Folge davon: Zwei von einander unabhängige, im Abstand von geschätzten 4o Jahren mehr zufällig entstandene kleine Formationen von „Ehemaligen“ versuchten bisher, im internen Austausch von Erinnerungen den überwiegend „Guten Geist von Haigerloch“ hoch zu halten und hoch leben zu lassen. (Leider ist eine dieser Gedächtnispflege-Gruppe mittlerweile aus Altersgründen der Besatzungsmitglieder eines seligen Todes entschlafen. Die Tatsache jedoch, dass es diese Bewegung gab und noch gibt, sollte wie der Umstand, dass diese leidenschaftlich in den Eingeweiden der und ihrer Haigerlocher Vergangenheit forschen, analysieren, diagnostizieren… sollte gerade von denen, die heute „die Weißen Väter“ sind, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gäbe es jene freudige Umtriebigkeit denn, die weder masochistisch noch sadistisch ist, und die auch keine kriminologischen Züge trägt, wenn die Geschichtswütigen sich nicht froh und dankbar über Gewesenes ausließen?

Schade, dass man damals von Weiße-Väter-Seite aus nicht daran gedacht hat, die Ehemaligen, die ja über den langen Weg bis zum Ziel in allen Kategorien reichlich anfielen, aufzufangen. Es wäre damals ein Leichtes gewesen, statt der praktizierten totalen Abschottung ein wie auch immer geartetes Netz für einen menschenfreundlichen Übergang zu spinnen und zu spannen – es hätte ja nicht gleich ein Dritter Orden sein müssen – um einen sanften Übergang zu ermöglichen, und vor allem, um die Ehemaligen auch zum Nutzen der eigenen Sache bei Laune und bei Fuß zu halten. Geschenkt! – sagen wir heute - die Produktion ist eingestellt, nachdem einige Ehemalige dankenswerterweise in Eigeninitiative und - Gott sei Dank - mit dem Wohlwollen inzwischen der alten Firma - ein solches Konstrukt der Begegnung und des Austausches geschaffen haben (siehe oben). Der Wunsch: „Vivat, crescat, floreat!“ ist wohl angesichts unseres inzwischen erreichten Alters ein schlechter Witz, der Dank jedoch von uns klapprig gewordenen Vertretern des Fußvolkes an alle die sich, redlich und so gut sie konnten, darum bemüht haben, uns das Laufen auf gewöhnungs-bedürftiger Strecke beizubringen, sei uns gebotene Ehrensache. Ob die, die wir im Erinnern ehren wollen, die vom Bodenpersonal, ob die sich wohl darüber freuen könnten, dass wir trotz allem und anders als sie es mit uns vorhatten - aber immerhin auch durch ihr Mitwirken – heute auf anderen Wegen genau die Ideale von damals zu verfolgen?

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