Wir sind das Fußvolk (Teil 2. Wie es sich anfühlt/e…)

von Jochen Schulz

Wir – das „Fußvolk!“: Wir alle nämlich, die wir uns seit Wiederbeginn nach dem Krieg, im Alter von 11 bis 14 Jahren, ernsthaft und selbstlos, aber alles andere als sich der Tragweite bewusst, auf einen ungefähr 18 Jahre lang dauernden, unbekannten Weg nach Afrika gemacht haben, mit seiner ersten Etappe im Sammellager „Haigerloch“. (Im niederbayrischen Zaitzkofen gab es noch die „Spätapostel“ (eigentlich „Spätberufenen“), die vor allem kriegsbedingt um einige Jahre älter erst zur Truppe gestoßen sind.)

Natürlich hat es schon vor dem Krieg „Fußvolk“ gegeben, doch die nur rar vorhandenen Totenbildchen liefern keinen Gesprächsstoff über die Haigerloch-Befindlichkeit der ausgewiesenen Personen. Und wir selbst haben bei passender Gelegenheit nicht daran gedacht, unsere damaligen Matadore danach zu befragen, wie es denn so in ihrer Zeit als Schüler in Haigerloch gewesen sei. – Heute wäre es reine Spekulation, wollte man etwa aus unseren spärlich hängen gebliebenen Eindrücken von ihrem geistlich/ pädagogischen Umgang mit uns Schlüsse ziehen, wie es ihnen denn selbst damals – in der Haut von uns – hätte ergangen sein können.)

Das Haigerlocher Sammelbecken nannte sich Missionshaus, war also ‚ein Haus mit wahrlich besonderer Mission‘. Immerhin so attraktiv und spannend, dass wir selbst, von Idee, sowie von Personal- wie Materialequipment angezogen, in ungewöhnlich jugendlichem Alter dorthin gezogen sind, um in diesen Mauern erzogen zu werden. Dafür war, neben dem Schulbetrieb, Zielorientierung in Theorien und Praxis angesagt, eine Art Grundausbildung auf dem noch schwankenden Boden einer kindlich-einfachen und durch nichts getrübten Grundeinstellung, und darum wohl auch so nachhaltig und heute noch präsent. Für viele geriet die Etappe zum Eignungstest für ein ganzes Leben, unter Berücksichtigung von individuell sich unterschiedlich auswirkender, entwicklungsbedingter und anderer Einwirkungen (Pubertät, recht frühe Entfremdung von Ursprungsfamilie und bis dahin vertrauten Personen, Orten, Bedingungen…). Dort vor Ort entschieden sich viele Schicksale in Eigenregie oder wurden von anderen entschieden. Nach dem uns vermittelten Weltbild entschied in letzter Instanz Gott, der jedoch damals aus uns unerklärlichen Gründen immer nur eine einzige passable Möglichkeit im Köcher seines ewigen Ratschlusses parat hatte. Klar, dass bei solchen Umständen generell eine Entscheidung zumindest mangels zulässigen Angebots sehr problematisch war.

Für uns Ehemaligen von „Staffel I“, die Eintritts-Jahrgängler nämlich direkt nach dem Krieg (1946-49), die seit 1965 auf - nimmermüdes Betreiben unseres Mitschülers Egon Schmid – in regelmäßigen Treffs in der alt/ehrwürdigen Retorte die dort ehedem (allein und mit anderen) angerührten Lebensgeschichten wieder angerichtet, aufgerührt, aufgekocht und die Düfte des Geköchs genüsslich inhaliert haben. (Beim letzten Zapfenstreich neulich (2o17) haben ihre damals noch mobilen Vertreter - Hans Müller (1946), Gustl Diehm (1948), Jochen Schulz (1947) - am Ort des Geschehens die Staffelfahne des organisierten Erinnerns eingeholt.)

Doch zum Glück bleibt da ja noch Staffel II. - die Mannen nämlich um Freddy Epple und Raimund Pousset. Seit gefühlten 1oo Jahren und geschätzt seit der Jahrtausendwende halten die sich in dieser Staffel locker Gefundenen aus dem Bereich der 6o./7o. Jahrgänge unermüdlich, varianten- und einfallsreich das Vermächtnis von Haigerloch hoch – und dies weit über die Betriebsschließung (1971) hinaus. (Siehe dazu das üppig bestückte Klepfer-Portal von Freddy Epple, als Herzschrittmacher einer deswegen lebendig gebliebenen Erinnerung, samt seinen Anreizen für allerlei Spielarten des „Memento Haigerloch“!) Doch nun zu Staffel I. Mit knapp zwei Dutzend ungefähr Gleichaltriger (11-16 Jahre) kam ich 1947 nach H. Der eben zu Ende gegangene Krieg steckte uns noch voll in den jungen Knochen: Er war uns anzumerken – was uns grundsätzlich von unsern jüngeren „Brüdern“ aus Staffel 2. unterscheidet. Auch vor Ort konnten wir noch den Krieg an seinen Folgen ausmachen: Die Städter unter uns waren körperlich weit weniger gut drauf und wiesen wegen kriegsbedingter Umstände größere Lernlücken auf, die bei unseren Kameraden vom Land (große Mehrheit in der Klasse) in direkter Vorbereitung auf Haigerloch oft von den Dorfgeistlichen schon vorab gestopft worden waren. (Diese Ortsgeistlichen übrigens hatten bei sehr vielen an der Stellschraube zur „höheren Berufung“ gedreht.) Kriegsrelevant war auch unsere Oberkleidung, meist aus Uniformen der aus dem Krieg heimgekehrten Väter geschneidert. Die Bekleidung insgesamt war alles andere als der Mode letzter Schrei und hatte häufig schon anderen zuvor als Schutz gegen Kälte und süchtige Blicke gedient.

Der Krieg hatte uns allen die Kindheit ganz oder ein bedeutendes Stück davon geraubt: Im Gegensatz zu den Leuten aus Staffel 2. waren wir alle gänzlich oder eine ganze Zeit lang ohne Vater aufgewachsen, einige haben ihren Vater nie gekannt, andere nie wieder gesehen, andere wiederum erwarteten immer noch als Überbleibsel aus irgendeinem Gefangenenlager. Auch stießen immer wieder eben aus der Gefangenschaft entlassene Patres zu uns, um in die Schul- und Erziehungsarbeit integriert zu werden. Als Kinder waren wir recht intensiv in die tagtäglichen „Erwachsenen Pflichten“ eingebunden – auch als Pseudo-Väter jüngeren Geschwistern gegenüber und zur aktiven Unterstützung einer gezwungenermaßen eher autoritär und genervt auftretenden Mutter. Freizeit zum Spielen, zum Toben…hat es nicht gegeben. Auch war in der Kriegszeit die Einbindung durch größere Kontaktnahme in soziale Gesellungen (außer Kirche auf dem Lande) Fehlanzeige, dafür schweißte die aktuelle Not im (groß-) familiären Bereich und auf dem Gebiet „nachbarliche Überlebenshilfe auf Gegenseitigkeit“ zusammen. Diese Lebensbereiche, auf die wir im Krieg als Kinder unbedingt angewiesen und auch beschränkt waren, lieferten uns ein in H. recht gut verwertbares Ergebnis ab: Den mehr oder weniger unproblema-tischen Umgang mit dem Gehorsam, die Genügsamkeit mit dem wenigen, was sich anbot und einen geradezu selbstverständlichen Bezug zur gegenseitigen Hilfsbereitschaft. Michael Schönherr wies neulich zurecht darauf hin, dass sich unsere Jahrgänge (Staffel 1.) sehr von denen (Staffel 2.) unterschieden, mit welchen er Haigerloch erlebt hatte. Er deutete damit auf die unterschiedlich gelebte Ernsthaftigkeit hin, die uns aus Staffel 1. manche Zuckung unserer jüngeren Weggefährten (siehe Gesammelte Werke / Freddy-Portal) nicht eben leicht zugänglich macht, wie die von Staffel 2. bestimmt ihre Probleme mit unserem unkindgemäßen Ernst gehabt haben müssen. Es ist schon verwunderlich, dass die für uns (von Staffel 1. und Staffel 2.) fast durch die Bank namensgleichen Lehrer und Erzieher bei uns Älteren als „sanfte Lämmer“ durchgingen, bei denen ungefähr ein Jahrzehnt danach jedoch das große „Kragenplatzen“ begann. Ein Vergleich der unterschiedlichen Voraussetzungen würde wohl erbringen, dass sich bei unseren jüngeren Kompagnons familiäres Miteinander und gesellschaftliche Interaktionen inzwischen anders gestalteten und auch in Wertigkeit und Inhalten anders definierten – irgendwer sprach da sogar irgendwo von den vorausgaloppierenden „68ern“…

Die Kriegsfolgen haben wir auch vereinzelt an der Präsenz des einen oder anderen Mitschüler mit „Flüchtlingshintergrund“ festgestellt. Die staatlich wegen Unterernährung verordnete und organisierte Hoover-Speisung - normal in Form einer warmen Grießsuppe in der großen Pause der Schultage und einem Täfelchen Schokolade zum Wochenende - empfanden wir nicht als Konsequenz der eben noch erlebten grausamen Zeit (war es aber!), favorisierte uns doch das Schoko-Täfelchen zu ‘Krösussen‘ gegenüber dem Rest der Bevölkerung, die erst nach der Währungsreform 1948 zu derartigen Genüssen kam, sollte man nicht zufällig spendable Verwandte in den USA haben.

Dass der Krieg noch gar nicht so lange vorüber war, merkten wir auch, als eines schönen Tages aus heiterem Himmel eine - schon wegen ihrer 2 Meter 1o –Körpergröße - richtige ‘Sensation‘ als ein neuer Mitschüler bei uns auftauchte. Der Hintergrund: eine Kriegsfolge. Der ca 2o Jahre alte, lattenlange, junge Mann gehörte zum Ende des Krieges der Leibstandarte „Adolf Hitler“ an und sollte/wollte jetzt als „Priesteranwärter“- oder in Vorbereitung auf diese Anwartschaft- seinen fundamentalen Gesinnungswandel unter Beweis stellen. Bald darauf schon verschwand er, wie er gekommen war - über Nacht, und wir waren um eine Sensation, aber auch um eine Kriegsfolge ärmer. Doch es gab ja noch andere.

Ein wenig habe ich schon mit so manch anderem darunter gelitten, dass ich -weil körperlich unterentwickelt (auch eine Kriegsfolge) – nicht mit den anderen und Kräftigeren Fußball spielen konnte, also von der normalen Freizeit-gestaltung schlechterdings ausgeschlossen war. Wie sehr mich das damals umgetrieben hat, zeigt das Betätigungsfeld, das ich mir stattdessen – nicht aus selbstlosen Beweggründen, sondern zum eigenen Muskelaufbau - ausgesucht hatte, wollte ich doch unbedingt Fußball spielen, wie die anderen: Ich transportierte nämlich eine ganze Zeitlang – so gut es ging – in der Mittagspause Bruchsteine (kleinere), die bei der Reparatur der Wandelhalle Verwendung fanden. Ansonsten war Kartoffelschälen in der Sitzgruppe, was ja praktisch jeden Tag anfiel, die bevorzugte Domäne, auf der ich meine Punkte einfuhr - schließlich braucht ja jeder (Irdische) sein Erfolgserlebnis; oder nenne es: „die Anerkennung durch andere.

Andere -wie ich ‘Sänftlinge‘ antizipierten in der Mittagspause schon mal heimlich ihre anvisierte Priesterschaft und feierten stickum „schwarze“ Messen im Oratorium unter dem Dach-Juchee des Hauses (keine Kriegsfolge!). Und das mit allem drum und dran: Geklaute Hostien und Messwein aus der Sakristei, Kerzen auch von dort, Gewänder lagen genug herum … als Messdiener fungierten gleichgesinnte Mitschüler, nur Gesänge waren verboten, da sie das fromme Tun ja hätten verraten können. ..wie ja auch ein qualmendes Weihrauchfass. Das hier Erwähnte mag sicherlich als kindliche Spielerei und infantile, hoffnungsfrohe Vorfreude auf Zukünftiges durchgehen; schon fragwürdiger wurde es, wenn die Unterrichtspausen, die der Erholung dienten, fast permanent zur „stillen Anbetung“ in der Kapelle benutzt wurden, auch wenn in den aufklappbaren Pulten der Klassen- und Lernräume kleine Hausaltärchen mit Monstranzen, Muttergotteschen und anderem frommen Beiwerk gebastelt wurden, um dann in den Lernzeiten bei halbgeöffnetem Pultdeckel Privatandachten ein notwendiges Ambiente zu verleihen. So als hätten wir nicht schon genug Frömmigkeit und fromme Praktiken im Hausgebrauch gehabt. (Heute würde man bestimmt auf Geburtswehen einer entstehenden „Parallelbewegung“ schließen à la : „Die volle, richtige Frömmigkeit in der Frömmigkeit“) Doch heute, bei so viel fehlgeleiteter Frömmigkeit, müsste sich eine Lagerleitung auch die Frage gefallen lassen, ob da etwa zarte Gemüter in unserer Gemeinschaft über den selbstverordneten Nahrungsverzicht, das selbst auferlegte Trinkwasserverbot in heißen Tagen, das Tragen von selbstgebastelten Stacheldrahtmanschetten unter dem Hemd und ähnliches nicht das falsche Ventil bedient haben, um den Dampf abzulassen, den erst ein Überangebot an Frömmigkeit und religiösen Übungen aufgebaut hatte. Geradezu grotesk und gefährlich jedoch wurde es, wenn sich Jugendliche wie wir aus religiösen Motiven kasteiten und ihrem Körper Schmerz zufügten - bei aller gepredigten Leibfeindlichkeit damals - und wenn die Narben des freiwilligen Teilmartyriums dann auch noch von den selbsterkorenen Leidensmännern als Beweise ihres ‘Lebenswandels auf Kurs‘ herumgezeigt wurden.

Was von unserer Haigerlocher Abenteuerbahn damals noch anzusprechen wäre, ist die stattgefundene Entmystifizierung der Geistlichkeit, die der tägliche Umgang mit den Patres mit sich brachte. Bei mir begann die „Götterdämmerung“, als ich als kleiner Junge nachts auf dem Weg zur Toilette einem von mir als heilig eingeschätzten Pater im Bademantel auf dem Gang zu demselben Örtchen begegnet bin; da gab es anschließend wirklich in meinem kindlichen Gemüt einiges zu sortieren. Geistlichkeit bisher auf pfarrlicher Ebene war eigentlich nur auf Abstand erlebbar, mehr oder weniger auf dem Sockel der Unnahbarkeit, also als sowas wie die „Verwandtschaft vom Großen Chef da oben“, den aber niemand so richtig kannte. Doch was man von ihm wusste: Er war die Vollkommenheit in persona“, was man dann als Kind auch auf sein Personal übertrug. Doch siehe da: diese Personen, die uns betreuenden Geistlichen (Patres) nämlich, waren im Nahblick eher wie wir selbst oder wie der Vater zuhause und weniger wie ihr ferner, fremder Chef. Und somit waren sie uns ein ganzes Stück näher gerückt. Doch dann rutschten sie sogar noch ein Stück weiter nach unten, denn Gottes Helfershelfer besaßen zwar nicht nur jede Menge an Tugenden, doch halt nicht nur die; immer blieb eine Restgröße „Mensch und manchmal sogar auch „schwacher Mensch“ übrig. Und wo Gott in seiner Güte nach unseren Vorstellungen damals eigentlich und ganz bestimmt gnädig und barmherzig zu uns Sündern gewesen wäre, da erlebten wir sie vom Bodenpersonal‘ sogar manchmal richtig ruppig. Grund genug, den kleinen Standgerichten tunlichst auf ihren ewigen Kontrollgängen aus dem Weg zu gehen – auch ohne vorhergehenden Gewissens-Check, denn irgendetwas gab es bei uns „Fußvolk“ ja immer zu beanstanden. (Meine Verstöße gegen das Schweigegebot waren bestimmt meist dreistellig!) Gerade die alles andere als göttliche Behandlung derer, die da Beanstandungen provozierten und produzierten, sorgte für Entmystifizierung und Entglorifizierung des Bodenpersonals, sprich der Priesterkaste. Immer mehr Menschelndes, immer mehr „so wie du und ich“ kam da hoch und brach so nach und nach im Alltagsleben des Heimes manch mystisch-sakrosankt Daherkommendes und auch formal Sazerdotal-Verbrämtes herunter auf ein recht realistisches und normales Maß bodenständig-anständiger nicht verklärender Begegnung. Darf ich es ein „Miteinander sui generis“ nennen, bei der sowohl die eine wie die andere Seite so ihre eigenen Erwartungen und Reserven hatte; auch gegenseitiger Respekt -manchmal sogar auch Angst? Doch dieser sich im persönlichen Bereich vollziehende konsekutive Prozess musste erst einmal durchgestanden werden, was für kleine Seelchen nicht so einfach war. So habe ich es in der Rückbesinnung erlebt und darum auch so dargestellt. Andere Erlebnisfelder in der Tugend-Zuchtanstalt von H. sind im Klepferportal zur Genüge beschrieben, die sich nur in Nuancen von den von uns (Staffel 1.) gemachten Erfahrungen unterscheiden.

Zum Thema „Haigerloch und die Frauen“ kann ich aus meiner Zeit nichts beitragen außer einem Zitat eines unserer Erzieher. Er gab uns folgende Verhaltensregel mit in die Ferien: „Hütet euch vor den Bezopften: In ihnen steckt der Teufel!“ Es hat mich damals nicht angefochten, damals, als ich noch keinen „welten-entscheidenden“ Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht habe. Heute könnte ich mitreden, und heute würde ich auch die Frage stellen, warum sich Gott mit seiner Gnadenverteilung selbst ein Bein gestellt und es zugleich seinen getreuesten Mitarbeitern so schwer gemacht hat: Da setzt er im Ehesakrament ausdrücklich den Erweis der Liebe (Zeichen und Geschenk in einem) ein, den er ausgerechnet und grundsätzlich seinen Besten vorenthält. Und so mussten unsere geistlichen Häuptlinge halt - bildlich gesprochen- mit der Schrotflinte ums Haus laufen, um diese ganze Versuchung auf zwei hübschen Beinen (auch ein Einfall des lieben Gottes) abzuwehren, und damit auch gleich noch alle Frauen – die eigenen Mütter und Schwestern inbegriffen – zu disavouieren. (Diesmal keine Kriegsfolge, aber ein System-, nein: ein Konstruktionsfehler!).

Zum Schluss möchte ich, ohne ein neues Fass aufzumachen, jenen beiden, die in meiner Zeit in H. immer treu neben mir gestanden haben und gegangen sind, nach nun 7o Jahren endlich meinen ganzen Dank abstatten. Sie, vom Fußvolk wie ich, haben zusammen mit mir in der von Lavigerie vorgeschriebenen Mini-Lebenskonstellation „Semper Tres“ nicht nur Leben gesichert, sondern Entwicklung vor allem in Freude möglich gemacht. Sie sind für mich Eltern- und Geschwistersatz geworden, sie waren als die neue und ganz andere Familie. Sie wurden zu Vorbildern und lieferten gleichzeitig auch abschreckendes Beispiel – doch auch da fanden sie oft noch heimliche Bewunderung. Sie machten Mut, korrigierten Fehlverhalten, gaben Lern- und (Über)-lebenshilfen. Nebenbei fungierten sie - je nach Anlehnungsbedürfnis – als Seelentröster, als Ersatz-Beichtväter, oft wirksamer als die dafür bestellten Profis. Manches Alltagsproblem ließ sich mit ihnen locker und doch verbindlich klären. Im Sog ihres Beispiels geriet man wie selbstverständlich in die Verantwortung für andere, zumal für Jüngere und Schwächere, die schon durch ihre Gegenwart Handeln für sie anmahnten. Dadurch dass man sich rund um die Uhr, jeden Tag und Jahre lang auf der Pelle saß, lernte man sich bis in die tiefsten Persönlichkeitsnischen kennen. Ein diese Lebens- und Notgemeinschaft tragendes Vertrauen baute sich auf, obwohl Intimität nicht vorgesehen war und nur stattfand in Tag-, Nacht und Albträumen. Alles war Gemeinschaft: das Essen, das Lernen, das Beten, das Schlafen. Sogar auf der Toilette stand oder saß man -nur durch dünne Bretter getrennt – nebeneinander. Spaziergänge fanden nur im Rudel mit Leitwolf statt. Persönliche Nähe – ‘Partikular-freundschaft‘ hieß das Unwort dafür - war verpönt. Ob wohl deswegen, weil der durchaus jesuitisch angehauchte Gründer in diesem Punkt lutherische Schlagseite zeigte, der menschlichen Natur nicht allzu viel Gutes zutraute und sogar dem sittlich reifen Weißen Vater in der verordneten Dreisamkeit stets und ständig zwei Aufpasser an den Hals hängte? Wobei dies nur die eine Seite der Medaille widergibt: Ich sehe heute den Wert dieser ‘Wir-Verhaltensregel‘ für mich in der hohen Bedeutung , die dem Leben in Gemeinschaft zubemessen war – übrigens für uns in der damaligen Zeit genauso wichtig wie für die Missionare in der Abgeschiedenheit des afrikanischen Busches , wahrscheinlich noch bedeutsamer , hat doch Nestwärme im kindlichen Alter hochvitale Bedeutung. Und diese Wärme fanden wir mit- und untereinander.

Das Leben auf engem Raum und im Gleichschritt der Umstände schweißte auf Gedeih und Verderb zusammen; dies selbst noch im Koller, den das vereinnahmende Kollektiv durchaus auslösen konnte. Die Konflikte aus täglichem An- und Miteinander mit ihrer schicksalhaften Unausweichlichkeit waren unter der lebenserhaltenden Knute ihrer Bewältigung noch wie zusammenschmiedende Hammerschläge. Alles was getragen hat, alles was zu tragen war, angefangen vom lebensverändernden Entschluss für Haigerloch bis hin zum alters-ungemäßen, nach außen abgeschotteten, paramonastischen Gemeinschaftsleben, auch die einem streng religiös ausgelegten Internat eigene Art, Freude zu bereiten und zu erleben, gaben dieser Zeit Reichweite (auch bitte in der Auseinandersetzung damit) bis heute und ein ihr sie von anderen Epochen unterscheidendes Gesicht.

Meist lächelt es, wenn die bewusste Rückbesinnung darauf Affinität mit Weg und Weggenossen produziert.

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