Katastrophe oder Gnade

Man nannte die Veranstaltung abends um 19 Uhr „geistliche Lesung“. Nach etwa 2 Stunden Studienzeit im Klassenraum des Haigerlocher Missionshauses betätigte der Glöckner die große Glocke oberhalb des Eingangs und die Missionsschüler gingen schnellen Schritts hinauf zur Kapelle, dort wurde der Angelus gebetet und anschließend ging man in den Exerzitiensaal, der am Ende des Ganges im Erdgeschoss lag, also genau gegenüber vom Speisesaal. Hier fand dann die „Geistliche Lesung“ statt. Wir Schüler saßen in unbequemen Bankreihen und lauschten den frommen Worten des Vortragenden; dies war meist der P. Superior, der einige ihm wichtige Punkte zum Alltag, zur Regel, zum geistlichen Leben der Missionsknaben vortrug. Es konnte schon mal vorkommen, dass ein anderer Pater den Oberen vertrat. Besonders spannend wurde es, wenn der P. Provinzial im Haus war; da denke ich vornehmlich an Gypkens. Je nach Laune und Lage konnte es eine spannende Vorlesung über die Mission oder auch eine Philippika über bestimmte Zustände im Missionshaus und das Fehlverhalten der Missionsschüler werden.

Katastrophe oder Gnade Nach über 60 Jahren und vielen Veränderungen und Erfahrungen in Kirche und Welt, ist es durchaus normal, den Inhalt dieser sog. aufbauenden Alltagspausen nicht mehr präsent zu haben. Schwach erinnere ich mich noch, dass gelegentlich dort auch über die „Negermärtyrer von Uganda“ berichtet wurde, vor allem in der Zeit um den 3. Juni; dies ist nämlich der Gedenktag dieser afrikanischen Christen, die für ihren Glauben gestorben sind.
Jetzt beim Aufräumen fiel mir ein kleines, vergilbtes Heftchen mit dem Titel Katastrophe oder Gnade in die Hand. Die Palme und die Negerhütte rechts unten weckten sofort meine Aufmerksamkeit und meine Erinnerungen an meine Weiße-Väter-Zeit. Ich blätterte auf und lese den Untertitel: „ Ein Heldenbericht aus den ersten Jahren der innerafrikanischen Mission der Weißen Väter von P. Fried. Rauscher S.M.A.“ Ja, an den P. Rauscher kann ich mich noch erinnern. Es war dies damals schon ein älterer Pater mit wallendem Rauschebart, der wohl in Rietberg stationiert war und als Lehrer zeitweise dort wirkte. In jungen Jahren hat er vermutlich das 31seitige Heftchen zusammengestellt. Er verkörperte damals die Urgestalt des Afrikamissionars. Ich habe ihn nur bei Besuchen im Haigerlocher Missionshaus erlebt. Das Heft ist unmittelbar nach dem Krieg 1946/1947 erschienen, was aus der eingedruckten kirchlichen Druckerlaubnis hervorgeht. Die Buchdruckerei St. Elser in Haigerloch hat das kleine Heftchen gedruckt.

Inhaltlich geht es auf 30 Seiten um die Geschichte des Martyriums der sog. Negermärtyrer von Uganda, die vom König wegen ihres christlichen Glaubens hingerichtet wurden. Die Schrift ist in 28 kleine Kapitel aufgeteilt; die jeweiligen Überschriften markieren die Inhalte:

  1. Ewiges Heldentum: Patres marschieren mit ca. 500 Begleitern durch das wilde Ostafrika
  2. Zwei Welten begegnen sich: Patres treffen den Stammeskönig Mtesa
  3. Verborgenes Heimweh: Patres machen ihre Erfahrungen in Uganda
  4. Keimende Saat: Patres spenden die ersten Taufen
  5. Verwaist und in die Bewährung gestellt: König Mtesa wendet sich dem Islam zu
  6. Schwung voller Wiederbeginn. Nachfolger König Muanga ruft Missionare zurück
  7. Gefährliches Wetterleuchten: Intrigen am Hof führen zu Feindschaften gegen die Christen
  8. Dunkle Ahnungen: Ein Missionar ahnt blutige Verfolgungen
  9. Der Sturm bricht los: Ein erster Christ wird auf Grund von Intrigen verfolgt
  10. Märtyrerakten: Zahl der Taufen wächst
  11. Das Morgenopfer : Der Christ Mukasa wird exekutiert
  12. Mutige Jugend: Die jungen Pagen am Hof bekennen sich als Christen
  13. Heidnische Erziehung: Die Missionare fordern, unter keinen Umständen vom Glauben
  14. abzulassen
  15. Ein blutiger Abend: Muanga will die Christen grausam bestrafen
  16. Ein tapferer Soldat und mutiger Christ: weitere, schnelle Hinrichtungen
  17. Einer, der Ernst macht: Der König lässt einen älteren Christen grausam ermorden
  18. Der Tyrann will Blut und die Väter opfern ihre Söhne: Die Väter stimmen den Grau- samkeiten des Königs zu
  19. Die tapfere Jugend macht sich bereit: Der Oberste der Pagen Karl Luanga spricht für die christlichen Pagen
  20. Ein Opfergang: Muanga ordnet den 60-km langen Todesmarsch für die Pagen an
  21. Parasceve – Rüsttag: Der Tod der Pagen wird vorbereitet
  22. Die heilige Stunde: Christen werden in Schilfmatten gepackt, Luanga wird abgeson- dert grausam hingerichtet
  23. Das mutige Kind und der verzweifelte Vater: Der Vater muss als Scharfrichter seinen Sohn töten
  24. Das Brandopfer von Namugongo: Pagen verbrennen auf dem Scheiterhaufen
  25. Katastrophe oder Gnade: die jugendlichen Märtyrer sind ein Segen für die Kirche
  26. Die Stunde Afrikas: Beispielloser Aufschwung des Christentums in Ruanda und Uganda
  27. Nach blutiger Aussaat reifende Ernte: Missionare taufen und bilden Priester aus; 1939 wird der erste afrikanischen Bischof geweiht; es ist ein Stammesbruder der Getöteten
  28. Der ewige Sinn der Treue: Trotz eigener Not sollen sich die Menschen in der Heimat für die Mission einsetzen
  29. Frage an Dich: Schicke uns Missionare; d.h. werde Missionar!

Es folgt auf Seite 31 die Auflistung des Missionswerkes der Weißen Väter in Deutschland:

Missionsschulen für die unteren Klassen, Linz, Haigerloch, Rietberg, Zaitzkofen;
1 Missionsschule für die oberen Klassen in Großkrotzenburg. Das Missionsseminar war in Haigerloch; weitere Missionshäuser in Trier und für Brüder in Langenfeld; Spätberufene können sich an die Missionshäuser wenden und junge Mädchen erhalten Auskunft über die Weißen Schwestern in Trier und in Laupheim.

Das Heftchen ist erschienen, als Deutschland an den Kriegsfolgen leidet: keine ordentliche Ernährung, keine Wohnung, keine Zukunftsperspektive ... Und hier boten die Weißen Väter eine erfolgversprechende Perspektive, die Arbeit in der Mission, die erfolgreiche Mitwirkung am Reich Gottes in Afrika.

Fast hätte ich das Bild, das mir eigentlich schon die ganze Zeit in meinem Kopf herumgeistert, vergessen. Es ist das Altarbild unserer Kapelle in Haigerloch. Dieses wurde etwa 1954 auf Initiative von P. Ökonom Schneider angefertigt und in der Hauskapelle aufgehängt. Es zeigt in der Mitte Jesus mit 4 Aposteln, auf der rechten Seite Christus, der den beiden Weißen Vätern ihr Aufgabengebiet zeigt, nämlich Afrika. Und links sind 6 Negermärtyrer zu erkennen, drei betend und Christus zugewandt. Oben sind bereits drei nach erlittenem Märtyrertod durch Verbrennen im Himmel mit der Märtyrersiegespalme, gruppiert um Christus, das Lamm. Der rote Hintergrund soll wohl die Flammen des Scheiterhaufens symbolisieren. Und dieses Bild haben wir mehrfach am Tag vor Augen gehabt: beim Morgengebet, bei der Messe, bei den kurzen Anbetungen, beim Abendgebet. Das muss wahrlich seine Wirkung auf uns ausgeübt haben.

Altarbild: Märtyrer

Ich muss gestehen, die Geschichten der jungen, afrikanischen Helden haben mich damals sehr beeindruckt. Daher war ich auch bereit, mich für die Afrikamission einzusetzen. Unter dieser Prämisse haben wir dann allerlei persönliche Einschränkungen und Opfer im Missionshaus-Alltag in Kauf genommen. Und war das nicht eine besondere Gnade für mich, für uns, sich hier im Missionshaus auf die Mitwirkung am Reich Gottes vorbereiten zu dürfen? Wollten wir nicht auch solche Helden werden?

Hajo Stenger
Stadecken-Elsheim, den 08.11.2023

Hier kann der Bericht als PDF-Datei heruntergeladen werden

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