Hoch gepokert – tief gefallen: P. Dr. Franz Gypkens

Gypkens Meine Eltern verbrachten ihren Sommerurlaub gern in Tirol. Und so fuhr die ganze Familie, d.h. vier Kinder, Mama und Papa im Lloyd 600 1957 in den Sommerferien nach Tannheim in Tirol. Ich hatte gerade das erste Jahr in Haigerloch hinter mir. Als frommer Missionsschüler ging ich natürlich jeden Morgen zur Messe. Und so kam ich eines morgens in die Tannheimer Dorfkirche und traf dort zu meiner ganz großen Überraschung einen Weißen Vater in Zivil: P. Fritz Engelbert aus Großkrotzenburg. Diesen hatte ich bei meinen Ferienbesuchen in dem dortigen Missionshaus Kreuzburg kennengelernt. Bei ihm waren noch drei weitere Personen: P. Franz Gypkens und zwei Frauen, von denen die eine wohl Ärztin war. Zu dieser Zeit war mir der Name Gypkens schon ein Begriff. Er hatte in den 50er Jahre Reisen durch die Missionsgebiete der Weißen Väter in Zentralafrika gemacht und sich dort mit wachen Augen umgesehen. Das Ergebnis waren diverse Schriften und Bücher, so z.B. Fortschritt, Fahrt am Äquator, Fremde Menschen, die das Leben in den afrikanischen Missionsgebieten kurzweilig und spannend beschrieben. Wir als Missionsschüler hatten die Aufgabe, in den Ferien möglichst viele dieser Bücher zu verkaufen, was geradezu in einen heiligen Wettstreit ausartete, denn die Quantität des verkauften Lesestoffes wirkte sich für den Betreffenden positiv auf das alltägliche Zusammenleben mit den Patres aus. 1957 war Gypkens dann zum Provinzial der Weißen Vater in Deutschland gewählt worden. Jetzt hatte er eine größere Basis, um zum Wohl der afrikanischen Missionen zu wirken. Das tat er auch. Es fanden Gespräche mit Politikern auf höchster Ebene statt, die meist einen kleinen Erfolg für die Afrikamission brachten. Außerdem hielt Gypkens zahllose Exerzitien, Vorträge und Missionsveranstaltungen und wurde mit bedeutenden zeitgenössischen Predigern gleichgestellt, so z. B. mit dem Erweckungsvolksmissionar P. Leppich, S.J., der damals Massen begeisterte. All das ließ Gypkens leicht abgeheben und er fühlte sich als „Herrgott“ über dem alltäglichen Kleinkram. Inzwischen hatte er auch in Schwarz-Afrika drei Sozialzentren gegründet und plante die Eröffnung von Wohnheimen für afrikanische Studenten in Deutschland. Diese jungen Leute sollten hier eine Hochschulausbildung erhalten, um dann später in ihrer Heimat in Führungspositionen zu arbeiten.

Als Provinzial kam Gypkens auch regelmäßig nach Haigerloch, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei gestaltete er die ansonsten recht langweiligen „Geistlichen Lesungen“ mit peppigen Missionsgeschichten. Dennoch zogen wir als Bübchen mit mulmigem Gefühl in den „Exerzitiensaal“ – er lag parallel zum Speisesaal genau an der gegenüberliegenden Seite des Missionshauses im Erdgeschoss und war damals noch mit unpraktischen Bankreihen bestückt. Gypkens hatte nun die Angewohnheit, bei seinen Vorträgen die Sitzhaltung der Schüler genau zu beobachten. Saß jemand schief oder stützte den Kopf ab, wurde er mit einem verheerenden Donnerwetter überschüttet, das ihm die Qualifikation zum Missionar nahezu absprach.

Einmal, es war wohl im Winter 1958 und alles weit und breit war gut mit Eis und Schnee bedeckt. Das brachte für uns Missionsschüler eine nette Abwechslung, denn man konnte mit dem Schlitten den Annaweg von ganz oben, beginnend an der Straße, bis hinunter zu den Stallungen hinter dem Haus fahren. Einige Schlitten hatten sich im Lauf der Zeit im Schuppen angesammelt, sodass nach den Mahlzeiten ein Run auf diese winterlichen Gefährte ausbrach. Inzwischen hatten auch Kinder aus Haigerloch diese tolle Rodelbahn entdeckt. Und so kam es eines Tages zu einem folgenschweren Zusammentreffen. Unter den Haigerlochern war auch Sybille Bär, die agile, pubertierende Tochter des Arztes in der Nähe der Annakirche. Und die hatte nichts anderes im Sinn, als mit ihren Freundinnen einmal die scheuen Missionsschüler aufzumischen. Die Buben legten sich bäuchlings auf ein Schlittengespann – man hakte mit den Füßen den nachfolgenden Schlitten ein - und obendrauf setzten sich die wild schreienden Gören. Das machte großen Spaß und weckte auch die Aufmerksamkeit der Patres. Als dann am nächsten Wochenende Gypkens zu Besuch kam, erzählten die frommen Herrn von dieser Begebenheit. Die Folge: Sofort am nächsten Montag mussten drei besonders aktive Schlittenfahrer ihre Koffer packen und das Missionshaus verlassen, hatten sie doch Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht gehabt. So ein Rausschmiss war fatal, denn erstens waren die überraschten Eltern zu tiefst geschockt und zweites war nicht klar, wie es für die Betroffenen mit der Schule weitergehen sollte. Das alles war Gypkens schnuppe.

Ein anderes Erlebnis mit Gypkens ist mir noch in Erinnerung. Wir waren inzwischen schon gereift und studierten in Trier in der Dietrichstraße 30 Philosophie: Aufstehen um 5.00 Uhr, halbstündige Betrachtung in der Hauskapelle um 5.30 Uhr, anschließend Messe. Zu dieser morgendlichen Übung erschien auch Gypkens, stellte sich vor die Alumnen und beobachtete diese genau. Sein geschärfter Blick fiel auf solche jungen Männer, die sich an das Rückbrett der Bänke anlehnten. Diese traf dann der Blitzstrahl der Verdammung: Sie wurden vor versammelter Mannschaft in heiligem Umfeld derart zur Sau gemacht, dass sie schier im Erdboden verschwinden wollten.

Der Höhe- und Wendepunkt im Leben von Gypkens ist eng mit der Affäre Sono-Viso verbunden. Gypkens, alter deus, dachte in großen Kategorien und arbeitete nur auf höchster Ebene. Zweifellos muss man ihm einen gewissen Weitblick und eine bemerkenswerte Fantasie sowie Visionsfähigkeit zugestehen. So hatte er die richtige Idee, dass Bildung eine enorm wichtige Aufgabe für die Mission ist. Dazu braucht es Medien, die mit Bild und Ton arbeiten. Entsprechend erdachte sich Gypkens einen speziellen Diaprojektor, der mit einem Kassettentonbandgerät gekoppelt ist. Damit sollen die Missionare und besonders alle Katecheten ausgestattet werden, damit sie die Bildungsinhalte optimal weitergeben können. Die Geräte sollten kompakt und leicht zu bedienen sein. So etwas gab es noch nicht auf dem Markt. Durch seine Beziehungen mit Wirtschaftsbossen erreichte Gypkens, dass die Fa. Saba ein ganzes Werk zur Produktion dieser Sono-Visos freistellte und so entstanden im Lauf der Zeit einige tausend dieser audiovisuellen Maschinen. Die Idee war nicht schlecht, aber die Realität eine andere. Wer sollte die Geräte bezahlen? Wer sollte sie reparieren in Afrika? Wer sollte die nötigen Dias und Tonkassetten produzieren und liefern? Da hatte Gypkens wohl noch an Wunder geglaubt. Aber diese geschehen nicht auf Kommando eines selbsternannten Gottes. Und täglich kamen neue Geräte aus der Fabrik hinzu. Inzwischen stapelten sich tausende Geräte in der großen Aula im Missionshaus Kreuzburg in Großkrotzenburg und enorme Kosten fielen für die Weißen Väter an: Die Privatkonten der Patres wurden gepfändet, Häuser mussten verkauft werden … Die Provinz war am Verzweifeln und am Rande des Abgrundes. Langsam sank der große Stern am Missionarshimmel. Damals 1966/67 war ich im Noviziat der Weißen Väter in Hörstel. Und so wurden wir, fast 20 Novizen, nach Großkrotzenburg geordert, um das Haus zu räumen, denn es sollte verkauft werden. Die Sono-Viso-Geräte verschenkte man großzügig an Pfarrer in Deutschland und legte einige fertige Missionstondia-Serien dazu. Allerdings flatterte ein paar Wochen später ein Schreiben aus Frankfurt in den Briefkasten des Beschenkten, man möge doch eine Spende für die großzügige Gabe an die Weißen Väter überweisen. Dennoch blieb vieles noch übrig, aber die Kreuzburg musste geräumt werden. Tausende Tonbänder und Zubehör, sowie viele Einrichtungsgegenstände aus der Missionsschule wurden auf einem riesigen, tagelang lodernden Scheiterhaufen verbrannt. Ich erinnere mich noch mit Schmerzen dran, dass man neben vielerlei anderem gute, schöne alte Harmonien aus dem dritten Stock warf, um die Einzelteile besser verbrennen zu können. Schade, dass es damals ebay noch nicht gab!

Gypkens hatte sich durch diese Aktion bei den meisten Mitbrüdern in Verruf gebracht. Wie man heute noch im Internet nachspüren kann, hat er den Geist des Vatikanum II nicht erfasst. Viel lieber glaubte er an sein eigenes Charisma. Er verteufelte in Wort und Schrift jede Art von Aufbruch im Sinne des Konzils. Geblieben sind allerdings antiquarisch seine vielen Schriften. Wobei die heute sicher auch nicht mehr die Begeisterung hervorrufen, die sie damals weckten. Gypkens wurde als Provinzial abgelöst und hat verbittert die Gesellschaft der Weißen Väter verlassen. Zurückblickend muss ich feststellen, dass ich Gypkens niemals habe lachen sehen. Er wirkte immer angespannt, geradezu verkniffen. Trotz all seines Wisssens hatte er wohl vergessen, dass er als Missionar eigentlich die Frohbotschaft verkünden sollte. Dazu fällt mir nur noch ein: Hochmut kommt vor den Fall oder Wer hoch hinaus wollte, kann auch tief fallen.

Stadecken, den 13.03.2014 Hajo Stenger
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