Debatten mit P. Haag

P. Haag P. Haag wurde 1962 Superior, ein ziemlicher Einschnitt in das Klima. Er hatte den Krieg mitgemacht, war lange in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen und schien mir – wie ich heute denke – aus der bündischen Jugend zu kommen. Wie einige andere hatte ihm der Nazi-Krieg seinen Traum vom Afrikamissionar zerstört. Er hat uns das nie spüren lassen, sondern lebte nach meiner Erfahrung weniger ein schwarze als eine weiße Pädagogik. Ich konnte mit ihm sehr intensiv debattieren, habe das oft getan. Hie und da vielleicht auch nur, um der Handarbeit zu entgehen. Oder später, als ich das Amt des Sakristans innehatte, war ein Gespräch zeitlich von meiner Seite aus leicht möglich. Er nahm sich immer Zeit für mich, meist in seinem Büro, und war mir immer ein gesprächsbereiter Erzieher. Manches konnte ich einsehen, aber immer erst nach intellektueller Reibung und manchmal, nachdem das Studium schon begonnen hatte. Ich meine, dass meine Freude an der Diskussion und dem Zu-Ende-Denken hier deutliche Nahrung und Schärfung fand.

Unvergessen für mich, wie mich P. Haag beschämte. Bis auf den heutigen Tag. Beim wunderbaren Bau des Eisenbahnmodells der Stadt Haigerloch (das wir ja nun im Boxenstop-Museum Tübingen wiedergefunden haben!) hatte er mich für den Bau der St.-Anna-Kapelle begeistert. Und ich machte mich mit einigen anderen ans Werk. Stundenlange Pusselarbeit, sägen, kleben, malen und die Barockschnörkel in Knetmasse formen. Letzteres war das Schwierigste. Da gab ich auf, streckte alle Viere von mir und vergaß das kollektive Ziel schnöde. Die Arbeit stand 4/5 fertig rum, als die anderen Gebäude schon fertig waren. Mein Bruder Meinolf und Stefan Lutz Bachmann haben die Schlosskirche „erschaffen“, alles schön nach eigenen Feld-Zeichnungen. P. Haag mahnte mich öfter, vielleicht 6 oder 7 Mal, mit motivierenden und mich an der Ehre packenden Worten. Er hat nie geschimpft, gemeckert, drangsaliert oder gar eine Strafe ausgesprochen. Doch ich blieb bequem, ließ die anderen im Stich. Als ich nach den Ferien wiederkam, glänzte mir eine völlig fertige St.-Anna-Kapelle entgegen und hinter dem Schloss ein Horizont-Gemälde. Und so glänzt das Kleinod noch heute im Boxenstop-Museum. Wie es da hinkam, ist eine eigene Geschichte.

Nie konnten wir uns allerdings über die pädagogische Urszene einigen, die er mir am Bildnis des Weinstocks einsichtig machen wollte. Damit ein Weinstock Früchte tragen könne, müsse er gebunden und beschnitten werden. Natürlich hielt ich dagegen, dass er diesen Akt nur durch das postulierte Interesse des Kindes rechtfertigen könne. Er könne aber nicht wissen, ob der Weinstock diese schönen oder überhaupt Früchte (da hatte ich noch nicht an die Evolution gedacht!) tragen wolle. Jedenfalls müsse der Weinbauer auch das Interesse des Stocks bedenken, sonst wäre die Behauptung im Interesse des Stocks zu handeln nichts weiter als die Absicht, die eigenen Interessen durchzusetzen. Es lässt sich leicht vorstellen, wie diese Denkfigur in allen Varianten durchgespielt wurde.

P. Haag habe ich später mehrfach besucht, auch mit meiner Frau. Bei dem Besuch, als sie mit unserer Tochter Sina Karen Njeri – letzteres ein Kikuyu-Name aus Kenia - hochschwanger ging, hat er uns einen kleinen Wecker geschenkt. Wir halten ihn noch heute hoch in Ehren. Besonders wohlgetan hatte mir meine Rückkehr zu einem ersten Besuch ein Jahr nach Verlassen des Missionshauses (1964/65). P. Haag hat mich wieder interessiert, liebe- und respektvoll empfangen. Obwohl ich ihm nochmals deutlich meinen Unmut über das Erziehungssystem des Missionshauses mitgeteilt habe. Unter den Jüngeren hatte sich die Kunde von der offenen Kritik wie ein Lauffeuer verbreitetet, so wie mir Bernhard Baiker kürzlich berichtet hat. Als ich damals mit dem Bähnle über Eyach nach Hause zurückfuhr („Blumenpflücken während der Fahrt verboten!“), saß ich eine Weile dort im Bahnhof und notierte mir einige melancholische Gedanken, die bis vor Kurzem noch in einer alten grünen Kladde schlummerten. Im Text überwiegt wohl deutlich die Nostalgie vor der Kritik - sogar das romantische Topos der „sorglosen Schulzeit“ wird bemüht – und ein wenig Zukunftsangst des rauchenden 18-Jährigen schimmert auch durch.

„Feucht weht der Wind von den Schneefeldern auf den kleinen Bahnhof her. Ich lehne in einer Ecke des Wartesaals und zünde mir mit klammen Fingern vom Schreiben eine Zigarette an [Heute halte ich in der Thoraxklinik Heidelberg Nichtraucherkurse - sic!]. Wie oft tat ich dies am selben Platz, heimlich oder später auch offen, um meine ‚Männlichkeit‘ zu dokumentieren?! Drüben in der Gastwirtschaft steht ein Zigarettenautomat, ich kenne ihn gut. Waren meine Kameraden und ich zu Beginn der Ferien denselben Weg gefahren, damals – wie lange mag es her sein? –, fütterten wir das hungrige Ungeheuer mit Markstücken. Auch jetzt verschwindet meine Mark rasselnd im Schlitz, ein Druck und 12 Glimmstängel verschwinden achtlos in meiner Manteltasche. Meine Stimmung ist gedrückt, hat mich dieser Besuch traurig gestimmt? Dieses Wiedersehen mit dem Internat, wo ich 4 ½ Jahre meiner Schulzeit verbrachte, sollte mir doch heitere Erinnerungen an Streiche und Lausbübereien schenken. Oder bereue ich heute mein Weggehen? Nein, ich möchte nicht mehr tauschen. Ist es die Erinnerung an meine sorglose Schulzeit, seit Monaten vergangen? An Alter kaum geändert, führe ich doch ein gänzlich neues Leben. Schule – ein vergangener Traum! Und doch war’s mir beim Besuch der alten Mauern, als wäre ich nie fort gewesen. Alles so vertraut. Nur mein Bett war von fremden Sachen überzogen und doch lag‘s sich so weich. Meine alte Schulbank: dieselben Segelboote und Köpfe von unruhiger Bubenhand hinein geschnitzt blickten mit lächelnd entgegen. Vorbei – ich muss vorwärts blicken und darf Vergangenem nicht nachtrauern! Doch was steht mir bevor? - Ein Zug donnert vorüber, unaufhaltsam.“

Fidel Fischer schreibt in seinem Beitrag auf der Suche nach dem unbekannten Spitznamen von P. Haag: „Vielleicht lässt sich auf diesem Wege Licht in das Dunkel zu bringen und eines der letzten Haigerlocher Rätsel lösen“. Am Festtag ist das nicht gelungen, vielleicht jetzt hier über die Festschrift. Wer es weiß, bitte melden!

Raimund Pousset

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