Karavane auf ultimativer Safari

(Meditatives zu einem radikalen Ortswechsel)


Toller Zufall -oder was? – Grund zum Dank auf jeden Fall, wenn die absehbar letzte große Haigerlocher Zuckung mir zum Brandbeschleuniger wird für den von den eigenen 82 Lebensjahren gebotenen Kehraus (nicht Garaus) in ganz persönlicher Angelegenheit – und hoffentlich auch für andere!
Dabei wäre zu klären, ob es sich bei dem ‚Kollektiv auf Wanderschaft‘ der gleich mir Todgeweihten von Haigerloch nach Hechingen etwa um einen Leichenzug mit klaren Konditionen handelt: den Himmel vor Augen, die Erde unter den Sohlen (noch) und die Hölle nach gültiger, immer noch knallhart-christlicher Einstellung im Genick* – was wieder einmal auf die Quellen der eigenen adoleszenten Spiritualität zurückverweist. (siehe auch Festschrift ‘111‘). Vielleicht spulte sich da aber auch nur der definitiv letzte Abschnitt ab jenes lebenslangen Schweigemarsches, in Szene gesetzt vom unaufgeregten, transzendental verzurrten Gehorsam. Das könnte die Vermutung beflügeln, mancher direkt an der Prozession Beteiligte hätte diese vielleicht gern dort zuende geführt, wo er sie - gleich uns allen - einst begonnen hat. Immerhin lässt sich dieses letzte Intermezzo zwischen Erde und Himmel mit freudiger Genugtuung als menschen- weil pflegefreundliches Geleit registrieren im Sinne derer, denen als im Grunde heimatlosen Gesellen Haigerloch bisher als allerletzter ‘Durchlaufposten’ vorgegeben war nach all den unzähligen (oft harten) zuvor - rund um die Welt und vor dem demnächst anstehenden endgültigen Abschied aus derselben. *nach der Regieanweisung aus dem Lied: „Wir sind nur Gast auf Erden ...“
Dies gilt nicht für uns Haigerlocher der zweiten Kategorie, die wir uns in Wirklichkeit nie von all den in der sensibelsten Zeit unserer Entwicklung gesetzten existentiellen Frage- und Ausrufezeichen trennen konnten, weil sie uns im praktischen Lebensvollzug immer wieder eingeholt haben. (Nicht nur die bisherigen Ehemaligentreffs belegen es.) Anders als bei den Mannen aus Kategorie eins, denen der Gehorsam für den Vollzug ihres Miteinanders hilfreich, wie auch zur erfolgreichen Durchsetzung der ihnen gesetzten Ziele und Wege nützlich sein konnte, mussten wir uns auf freier Wildbahn in Beruf, Gesellschaft und Staat eher kritisch als devot geben, um wir selbst, also authentisch zu sein und nicht untergebuttert zu werden. (Das hatten wir in der Haigerlocher Arena nicht geübt, dafür aber eine ganze Menge Tricks ausbaldowert, wie man Unliebsamem klammheimlich die Luft herauslassen und Liebsamen auf die Sprünge helfen konnte. Selbst auf der familiären Ebene -dem Exerzierplatz für Selbstwert und Mitverantwortung – waren (im Gegensatz zu früher) Auseinandersetzung als Wegbereiter gelebter Harmonie, und der Kompromiss als Weichspüler gegen zähnefletschenden Egoismus und auch würdeverachtende Radikalität angesagt. Das was denen im Original-Treck Verbliebenen, also bei jenen mit der göttlichen Liebe im Portfolio, Sache war, wurde uns, den Aussteigern obsolet. Dafür konnten, nein mussten wir uns in kreativer Verantwortung als Ebenbilder der allerhöchsten Instanz bewähren. War es etwa das, warum in früheren Jahren Treffen zwischen denen da drinnen und jenen da draußen nicht stattfinden durften, also schlechterdings verboten waren? Vielleicht liefert diese Dichotomie auch eine Erklärung dafür, dass sich mir die neulich zusammen getragenen, wertvollen Inhalte der Festschrift ‘111‘ - trotz der eingestreuten Grinser – sich manchmal wie ein verstecktes Tribunal geben . Cui bono? - wenn ich fragen darf.
Und damit wären wir auch schon bei den Haigerlochern der dritten Kategorie, jenen allermeisten also, - es mögen rund anderthalb tausend sein - die das Gemäuer schneller verlassen, als sie es gefunden hatten. Von ihnen hätten all jene, die heute noch dem damaligen Tummelplatz aller möglichen Gefühle (von Angst bis Begeisterung) geistig/ geistliche, soziale und pädagogische Bedeutung beimessen und damit Vergangenheitsbewältigung auch zur wohltuenden Begrünung des eigenen inneren Marktplatzes betreiben.. von ihnen, die auch ein Stück von uns gewesen sind, hätten sie, hätten wir liebend gern die tieferen Gründe erfahren, warum die Versenkung im totalen Schweigen als das Gebotenere erschien. Dies wird leider nicht mehr zu klären sein, genauso wenig wie die Frage nach der Bringschuld der für die negativen Prozesse verantwortlichen Akteure, haben sie doch inzwischen samt und sonders die Platte geputzt, es sei denn, wir zeihen uns selbst und übernehmen das selbstbelastende ‘Mea culpa‘.
Nun hat der ‚Haigerlocher Exitus‘ leider die Türe zur eigenen schmalspurigen (aber immerhin) Weiße-Väter-Vergangenheit zugeknallt, das Licht für immer ausgedreht und uns ausschließlich auf ‚Erinnern ohne steingewordene Verpackung‘ gesetzt. Das muss nicht unbedingt das Futter für Verschwörungs-theorien liefern, die das ohnehin schon verquerte Gemenge nur ungut anreichern. Noch bleibt für die Jüngeren unter uns ein wenig Zeit dazu, den bisher unter der Decke gehaltenen Fragen nachzugehen. Die Chance wie bisher zum klärenden, befreienden und persönlichen wichtigen „Weißt Du noch?“ wird es, wenn überhaupt, nur noch im sporadischen, verpackungsfreien Begegnen der ehemaligen Wegbegleiter untereinander und mittels des Drahtes geben, den Freddy und Consorten dankenswertweise `geklepfert‘ haben. Die Erklärung, dass uns ‘unsere Gedenkstätte (im Rang und in der allegorischen Bedeutung eines Nationalheiligtums) abhanden gekommen ist “, klingt geschwollen und sentimental, doch dahinter knurrt der verpflichtende Hinweis, dass da doch wohl noch so manches an Missverstandenem, Fehlinterpretiertem, Unbearbeitetem ansteht, um in der noch bleibenden Zeit von den durch Gemeines, Gemeinsames und Gemeinschaft (auch zeitlich versetzt) Verbundenen/ Verbündeten durch die Mangel gedreht zu werden. Nicht um ein Fass befreiender Abrechnung aufzumachen und um etwaige ‚Mütchen‘ zu kühlen, sondern weil wir es uns in der Letztverantwortung für uns selbst schuldig sind, alles zu unternehmen, um besser zu begreifen, wer wir eigentlich -und warum - sind. Dazu gehört nun mal die Kenntnis darüber, wer oder was uns ‚en detail‘ so gemacht hat, wie wir sind ...
Ich hangele mich mutig auf meinen dünn gewordenen Socken an der ‚Karavane auf letzter Safari‘ entlang und stelle fest: Sie verlangt mir Respekt und Dank ab in Stellvertretung für die vielen ihrer „Artgenossen“ (Träger, Führer, Spurensucher, Kameltreiber und Askaris), mit denen ich damals in Haigerloch geliebt, gelitten, gelebt habe. Sie haben dafür gesorgt, dass das stolze Gemäuer mit seinem bescheidenen Innenleben Heimat, Zuchtanstalt, Familienersatz, Orientierungshilfe, Welt- und Frauenentfremdungsrampe, auch Begegnungsfestival rund um die Uhr gewesen ist … auf jeden Fall immer (bei unterschiedlich ausfallender Bilanz) spannendes und prägendes Abenteuer, das mir die Demenz bitte nicht aus der Erinnerunung radieren möge. (Fortsetzung folgt! Und diese dann und umso lieber, wenn dein Widerspruch, lieber Leser und Weggefährte, und deine Meinung dazu mich zusätzlich auf Trapp oder in Rage bringt! Bitte versuche es, vielleicht kriegen wir einen Ersatzkonvoi auf die Beine.
NB. Vielleicht lassen sich meine Gedanken leichter einnorden, wenn ich sage, dass ich versucht habe, mich 26 Jahre lang voll in die Karavane einzubringen - meist froh, mit Elan, und überzeugt… Vieles, was ich im Weiße-Väter-Treck falsch gemacht habe (auch ich habe -zu meiner Schande - geprügelt!), besserte sich im eigenen ‚Familienbetrieb‘, wo allerdings die Freiheit geringer, die Freizeit weniger und die Verantwortlichkeiten größer, auch weil hautnäher geworden sind. Und viele der damals in Haigerloch im Zusammentun mit eigentlich allen getrampelten Pfade waren zielführend bis heute. Danke dafür!

Jochen Schulz (8.5.2018)

Anmerkung: Wer jetzt denkt: "Ja genau so ist es" oder "Das kann nicht unwidersprochen bleiben" und sich dazu äußern möchte, der kann das gerne in diesem Diskussionsforum machen. Ich würde (und viele andere) würden sich freuen, wenn eine Diskussion entfacht würde.

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