Lesen

Gelernt für die Schule wurde prinzipiell in zwei Bereichen, einmal im Schulunterricht und zweitens im Studium. Beides fand an einer Stelle statt, dem Klassenzimmer mit den berühmten Zwillings-Klapppulten, die – eng bepackt - unsere ganze Habe für Schule, Lesen und Freizeit enthielten. Im Studium machten wir unsere Hausaufgaben – und sonst nichts! Nur im sog. Freistudium konnten wir uns selbst beschäftigen: mit Lesen, Schreiben oder Zeichnen. Hier konnte ich z.B. meine Brieffreundschaften mit einem jungen US-Bürger aus Beaumont Texas oder mit meiner Japanerin Noriko Maeda pflegen. Letztere schickte mir einmal in einem Brief Essstäbchen – wahrlich ein konkreter Weltenöffner! Ich habe die Dinger mit in den Speisesaal genommen und gleich das seltsame Handling probiert. Dieses frühe Training kommt mir heute noch zugute. Natürlich gab es damals auch viele Versuche, das Studium gelegentlich ein wenig zu versüßen. Der Gang zur Toilette war so eine Gelegenheit, die jedoch vom aufsichtsführenden Pater oder älterem Mitschüler mit Argusaugen beobachtet wurde. Wenn es gelang, ein spannendes Buch - wie eins aus der damals sehr beliebten Serie „Ubique Terrarum“ - auf die Toilette zu schmuggeln, war man natürlich für eine kleine Weile im siebten Lese-Himmel. Als ich es einmal wieder versuchte, kam P. Vogt wissend auf mich zu, und klopfte mir wortlos mit den Fingern auf den Bauch – wo er das übliche Versteck des Buches vermutete. Nichts – kein Buch steckte im Hosenbund! Auf der abgeriegelten Toilette konnte ich dann trotzdem eine Viertelstunde ungestört lesen. Ich hatte mir das Buch hinten in die Hose gesteckt gehabt! Die Freude übers Lesen war dabei gerecht geteilt mit dem Stolz, die Repression überlistet zu haben. Im Kreise der Mitschüler brachten solche Husarenstückchen überdies Anerkennungs-Punkte. Auch nächtliches Lesen ließ die, die es sich trauten, in die Welt der Belletristik entfliehen. Ich habe manche Nacht bis in die Morgenstunden im Bett gelesen. Unter der gut geschlossenen Bettdecke, dass kein Schein den elenden Verräter hätte anlocken können. Auf der Seite liegend, die Taschenlampe überm Ohr, lag ich nicht nur vor Spannung schwitzend da, sondern auch aufgrund des steigenden Sauerstoffmangels. Immer wieder musste ich die Taschenlampe ausknipsen und kräftig lüften. Einmal hatte ich nicht gut vorgesorgt und mitten in Karl Mays Abenteuer, wo dem Bösen das Lebenslicht ausgeblasen werden sollte, flackerte sich meine Taschenlampe - nicht der Böse -zu Tode.

Raimund Pousset

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