Die Ohrfeige

Dass sich noch jemand an diese legendäre Ohrfeige erinnert, erstaunt mich. [Anmerkung: Fidel Fischer erinnert sich in einem Bericht an besagte Ohrfeige. Darauf bezieht sich Stefan.] Wie also war es?
Ich erinnere mich so:
Wenn „Wello“ das Klassenzimmer betrat, brach oft ein ziemlicher Lärm aus. Wir hatten ihn in Musik, meine ich. Beim Krach war ich meistens dabei, ausgerechnet an diesem Tag aber nicht, da habe ich in der ersten Reihe sitzend in der Pause irgendeine nicht gemachte Hausaufgabe abgeschrieben. Wello stürzt auf mich los in der Annahme, ich sei wieder mal dabei, packt mich und scheuert mir mit der vollen Handfläche eine aufs linke Ohr. Sofort begann ein nicht mehr endendes Brummen in eben diesem Ohr, der aufgesuchte Praktische Arzt meinte, ich müsse einen Ohrenarzt konsultieren. Der nächste war allerdings in Hechingen, was hieß, immer mit der Hohenzollerischen Landesbahn dorthin zu fahren. Super! Die mir dort verordneten Behandlungszeiten und davon abhängend die Zugverbindung waren immer irgendwie - seltsamerweise - während der Schul- bzw. Studiumszeit, was mir ungeahnte Freizeitkapazitäten verschaffte. Und in Hechingen entdeckte ich eine kleine imbissähnliche Kneipe, wo ich jedes Mal eine Cola zu mir nahm und mich irgendwie sehr weltmännisch fühlte. Und zu meinem größten Vergnügen befand sich in dieser Kneipe ein Musikautomat, der mir für nur 10 Pfennige bei jedem Besuch dort das Lied „In the ghetto“ von Elvis Presley vorspielte. Das war irgendwie die große, freie Welt gegenüber dem sehr streng strukturierten Tageslauf im Missionshaus.

Besagter Lehrer war von seiner Statur eher ein kleines Männlein, so meine ich mich zu erinnern. Als wegen dieses Vorfalles meine Eltern in Haigerloch erschienen und mit Herrn Schick sprachen, meinte hinterher meine Mutter, sie sei überrascht gewesen, sie habe eher einen Lehrer mit der Figur eines Preisboxers erwartet. Herrn Schick, vor allem aber wohl „Wello“, fielen offenbar einige Dutzend Steine vom Herzen, als meine Eltern versicherten, dass sie auf alle rechtlichen Konsequenzen verzichten würden. „Wello“ erklärte sich damals offenbar bereit, eine Arztrechnung und die Zugfahrten nach Hechingen zu übernehmen.

Nun ist dieser Riss im Trommelfell seit Jahrzehnten verheilt, bleibende Schäden sind nicht zurückgeblieben. Doch diese Geschichte war in meiner eigenen Lehrerlaufbahn immer wieder gut, um heutigen Schülern zu demonstrieren, dass sich die Zustände doch gewaltig geändert haben seit damals.

Was mir bei „Wello“ noch in Erinnerung geblieben ist, ist die Tatsache, dass ihm mitunter ein breites Schwäbisch rausrutschte, was mir als Hesse besonders auffiel. So fragte er mal am Ende einer Stunde: „Hat’s scho g‘litte“, um sich dann besonders hochdeutsch zu korrigieren „Hat es schon geläutet?“

Stefan Lutz-Bachmann, 22.5.2014

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