Anmerkungen zur Pädagogik bei den Weißen Vätern

Forscht man heute ein wenig, nach welchem pädagogischen Konzept uns die Weißen Väter erzogen haben, wird man nicht fündig. Nicht mal ein Aufsatz von Pater Superior in einem Missionsblatt oder einer einschlägigen Zeitschrift lässt sich finden. Oder auch nur ein internes Papier einer Arbeitsgruppe. Es gibt und gab schlicht kein Konzept! Wahrscheinlich hat auch nie jemand eines verlangt. Die Eltern wussten ihre Söhne bei den Patres ja in guten Händen. Wie viele Lehrer, Eltern und Institutionen waren die Patres aber Kinder ihrer Zeit. Ich habe noch erlebt, wie der kriegsversehrte Vater von Stefan bei einem Besuch seine Krücke auf dem Buckel des Sohnes zerschlug – hier gaben sich Elternhaus und bestimmte Patres wie P. Buse zufrieden die Hand.

Zur Frage der Ausbildung in Didaktik-Methodik war in der Regel wohl Fehlanzeige zu vermelden, ebenso wie in Pädagogik. Außer P. Zender war wohl keiner der Patres ein ausgebildeter Lehrer. Es war ja der Krieg, der unsere Patres statt zu Missionaren zu Lehrern gemacht hatte. Keine leichte Last! Woher sollte also ein pädagogisches Konzept kommen? Von den Patres eher nicht; es hätte wohl „von oben“ kommen müssen. Im Wesentlichen haben unsere Patres-Lehrer nach Gefühl, Neigung und eigener Erfahrung unterrichtet. Und das meist aus dem Buch. Da gab es eher Naturtalente, die auch recht beliebt waren wie P. Schröter. Die anderen mussten die Mühen der Ebene in Kauf nehmen – und wir auch. Aber auch P. Schröter war vielleicht in Musik ein Ass, aber bei seiner Latein-Didaktik konnte es gelegentlich ein wenig klemmen. Ein etwas jüngerer Klepfer schrieb mir kürzlich: „Meine erste Latein-Arbeit war eine Sechs. Ich hatte alle Vokabeln richtig, aber alles im Nominativ. P. Schröter hatte mir nicht verständlich gemacht, dass „der-dessen-dem-den“ im Latein durch die Endung angezeigt wird. Das habe ich dann von dir innerhalb einer Viertelstunde bei einem Rundgang ums Haus gelernt. - Etwas anderes muss ich Haigerloch zu Gute halten: anders als ich das von vielen Altersgenossen höre, hat unser Geschichtsunterricht nicht 1933 geendet. Herr Sußmann und auch Herr Schick haben dafür gesorgt, dass wir mehrere Filme sahen, die uns Warschauer Ghetto, KZ etc. verdeutlicht haben.“ Wenn man vom Unterrichten absieht, dann erzogen uns die Patres eher unreflektiert, wohl so, wie sie selbst erzogen worden waren. Die Ausnahmen, die es gab, traten eher leise auf und lebten ihre Nicht-Übereinstimmung im pädagogischen Alltag aus: sie waren eher schülerfreundlich und verständnisvoll. Prügel und Zynismus war ihnen fremd. Ich habe als eine solche Person z.B. P. Christian Herrmann erlebt. Neben dem offiziellen Lehrplan der staatlichen Schulen, dem Curriculum, dem ja auch die privaten Schulen unterworfen waren, herrschte im Missionshaus noch das versteckte Curriculum (das „hidden curriculum“), dessen unausgesprochenen Leitlinien die Pädagogik still und stumm steuerten.

Auch wenn die Pädagogen Kinder ihrer Zeit waren, gab es auch zu dieser Zeit Pädagogen, die anders erzogen – humaner und partnerschaftlicher: Ideen und Praxis, die seit etwa 1900 unter dem Sammelbegriff der Reformpädagogik erfasst werden. Davon waren die Missionshäuser der Weißen Väter kaum erfüllt; so wie ich es erlebt habe, war davon erst etwas seit den 60ern mit P. Ernst Haag zu spüren. Der traditionelle pädagogische Ansatz der Weißen Väter entsprach ziemlich profan fast dem der ganzen Gesellschaft, was sich eher unter der repressiven oder Schwarzen Pädagogik einordnen lässt. Seit der Veröffentlichung der Soziologin Katharina Rutschky ist dies ein negativ wertender Sammelbegriff für eine Erziehung, die Dressur, Gewalt und Einschüchterung als wesentliche pädagogische Mittel enthält. Damit muss die Erziehung im Missionshaus zu der in den Elternhäusern, anderen Schulen und (Jugend)-Verbänden in Beziehung gesetzt und beurteilt werden. Wie werden wir dem aber heute gerecht? Macht der Hinweis auf den Zeitgeist ein Phänomen wie die Erziehung schon „gut“? Kulturtechniken, Traditionen oder Erziehungsmethoden beurteilen wir heute nicht nur nach dem Stand der Zeit, sondern auch an überzeitlichen, ewigen Werten wie der Gottesliebe, Humanität oder Menschenrechte. Sonst würde etwa die pharaonische Infibulation, die brutalste Form der weiblichen Beschneidung, als kulturell verankert und von Kinder ihrer Zeit ausgeführt, sakrosankt sein. Und böse Nazi-Schergen und –Apparatschiks wären als Kinder ihrer Zeit und brave Befehlsempfänger ungeschoren davongekommen.

Schauen wir genauer hin, was unter dem vielleicht zunächst etwas plakativen Schlagwort „Schwarze Pädagogik“ verborgen ist, dann erkennen sich viele leicht im Missions- oder Elternhaushaus wieder: „Schwarze Pädagogik zielt auf die Installation eines gesellschaftlichen Über-Ichs im Kind, auf die Heranbildung einer grundsätzlichen Triebabwehr in der Psyche des Kindes, die Abhärtung für das spätere Leben und die Instrumentalisierung von Körperteilen und Sinnen zugunsten gesellschaftlich definierter Funktionen. Unausgesprochen diene die Schwarze Pädagogik der Rationalisierung von Sadismus und der Abwehr eigener Gefühle des Erziehers oder der Bezugsperson. Die Schwarze Pädagogik bediene sich dabei der Mittel des Initiationsritus (z.B. Introjektion einer Todesdrohung), der Hinzufügung von Schmerz (auch seelischem), der umfassenden Überwachung des Kindes (Körperkontrolle, strenger Verhaltenskodex, Forderung unbedingten Gehorsams), der Tabuisierung von Berührung, der Versagung grundlegender Bedürfnisse und eines übertriebenen Ordnungsdrills. Alice Miller arbeitet in ihrer Auseinandersetzung mit der Schwarzen Pädagogik besonders einen Aspekt heraus, nämlich wie Kinder dazu gebracht würden, nicht zu merken, dass sie unter der Gewalt von Erwachsenen missbraucht wurden, auch und besonders in der Form sexuellen Missbrauchs“ (aus: Wikipedia, 23.6.14). Sexueller Missbrauch ist im Bereich des Missionshauses glücklicher Weise ein Phänomen, das wir nicht zu beklagen haben. An dieser Stelle haben dagegen einige (Reform-)Pädagogen, sowohl im weltlichen als auch kirchlichen Bereich, deutlich und schändlich mehr gefehlt, wie wir heute wissen. Wir im Missionshaus haben also anderes erlebt. Auch, dass sexualisiertes Strafen oder anderes offensichtlich unterbunden wurden (siehe mein Text: Pilo).

Ziel der WV-Pädagogik war, den Nachwuchs heranzuziehen, d.h. aus pubertierenden Knaben Weiße Väter zu machen. Dies geschah wesentlich im hidden curriculum durch mehrere Erziehungsleitlinien und durch eher traditionelle Erziehungsmittel. Insofern wurden wir nicht als Jungen mit offener Entwicklung betrachtet, sondern als „kleine Weiße Väter“, die wie die großen behandelt wurden. Offen und nicht versteckt waren neben dem Lehrplan das Prinzip des „semper tres“. Dies ist offensichtlich - von Kardinal Lavigerie sinnvoll ausformuliert für die Patres - auch für die Zöglinge weitergegeben worden. Offen oder versteckt diente alles nur einem großen Ziel, den Knaben für seine Rolle als Afrikamissionar vorzubereiten.

Suchen wir nach wesentlichen Prinzipien unserer Missionshaus-Erziehung, d.h. wie ich sie erlebt habe, dann lassen sich diese vielleicht so zusammenfassen: Geregelt waren die Beziehungen zu vier Bezugspunkten: zu Gott, der Obrigkeit, der Gruppe und zur Weiblichkeit. Das entsprechende Verhalten, dass in diesen Verhältnissen erwartet bzw. erzogen wurde, lässt sich als Frömmigkeit und Spiritualität, Gehorsam (bis zur Aufgabe der Privatsphäre), Kollektivität („Semper tres“) und (lustfeindliche) Distanz beschreiben. Um dieses Verhalten erreichen zu können, wurden Sekundärtugenden erwartet, insbesondere Disziplin, Ordnung, Härte und Verfügbarkeit bzw. Flexibilität.

Erziehungsmittel waren Strafen, Körperstrafen, Kollektiv-Strafen, Psycho-Druck, und Demütigen. Auf positiver Seite waren Erziehungsmittel eher an bestimmte Patres geknüpft, die Anerkennung und Ansporn gaben, Mut machten, forderten, herausforderten, das offene und verständnisvolle Gespräch suchten, aber auch z.B. durch Ämterübergabe Verantwortung übertrugen. Natürlich wurde dieses Amt als erste Stellung in der Hierarchie zur Kontrolle von Jüngeren eingesetzt. Auch Essen und Trinken konnte Belohnungscharakter annehmen. Und das mönchische „Ora et labora“ waberte unausgesprochen durchs Haus; es hieß bei uns Handarbeit und Gebet. Der preußische Drill in Sport und Spiel lag im Trend der Zeit (das prächtige Stammschloss der Preußenkönige ist schließlich in Sichtweite) und war die geeignete Vorbereitung, die körperlichen Strapazen eines Afrika-Aufenthalts körperlich gesund zu überstehen.

Ein solches Konzept, unausgewiesen gegenüber der Öffentlichkeit und von außen betrachtet unreflektiert gegenüber sich selbst bzw. der Gemeinschaft, lies Tür und Tor auf für individuelle Willkür. Dadurch war die sowieso starke Stellung des Superiors pädagogisch so prägend. Es gab keine Grundüberzeugung, die ein Pater/Lehrer etwa gegen Pater Superior hätte argumentativ anführen können. Und schon gar kein Schüler! Und inwieweit ein Superior in pädagogischer Diskussion mit seinen Vorgesetzten stand, entzieht sich meiner Kenntnis. Insgesamt war die Erziehung stark an die einzelne Erzieherpersönlichkeit gebunden. Je länger wir zurückgehen, desto eher treffen wir auf Schwarze Pädagogik. Danach machen sich „weiße“, d.h. kindgemäße und schülerfreundliche Gedanken breit, und wir erlebten etwas, was wir vielleicht „Graue Pädagogik“ nennen können.

Ein solches Erziehungs-Konzept rief geradezu nach Widerstand, eher im subversiven Hintergrund, und lies eine lebhafte Subkultur blühen und gedeihen. Das Tagebuch von Klaus Weiss illustriert das besonders authentisch und sehr ausdrucksstark. Und auch mache der Anekdoten in dieser Festschrift künden davon. Wie man dort sieht: Pubertierende Jungs machen es ihren Eltern oder Erziehern nicht immer leicht, manchmal ging auch etwas über die Hutschnur. Trotzdem gilt der Satz, dass Druck Gegendruck aufbaut. Und beides schaukelt sich hoch.

Trotz der an anderer Stelle beschriebenen mir sehr angenehmen dialogischen Phase mit P. Haag war mir der Druck, die Verstellung und manchmal auch der Verrat zu viel. Mit 17 Jahren mochte ich nicht mehr so leben, fühlte auch keine Sympathie mehr für den Zölibat oder das Priesteramt und kehrte schließlich dem Missionshaus den Rücken. Vermutlich war dieser Protest gegen die strenge Erziehung im Missionshaus auch die übliche juvenile Auflehnung gegen die (in der Regel) elterliche Autorität. Insofern war mein Austritt also mindestens teilweise ein verlagerter Protest. Bei meinen Eltern hätte ich nicht oder nicht so „austreten“ können, im Missionshaus aber schon.

Es hat meiner Schulkarriere immens geschadet; mir selbst wohl nicht. Hätte ich aber gewusst, was mich im Lessing-Gymnasium in Frankfurt erwartete, nämlich der Totalabsturz, vielleicht hätte ich weiter „mitgemacht“. Denn man wurde unweigerlich der Schule verwiesen, wenn man nicht mehr Priester werden wollte. Wahrscheinlich hätten mich meine Eltern bei diesem „Betrug“ aber unterstützen müssen. Trotzdem bin ich später mehrmals ins Missionshaus zurückgekehrt. Ähnlich wie mit dem Elternhaus konnte ich mich nach der Auseinandersetzung innerlich versöhnen. Dazu hatte es aber das Gefühl gebraucht, seine Identität nicht aufgegeben und wertvolle Erzieher wie P. Haag oder andere an anderer Stelle genannten gehabt zu haben.

Raimund Pousset

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