Progymnasium

Als wir „Missionsklepfer“, wie uns die Haigerlocher liebevoll zu bezeichnen pflegten, 1962 im Progymnasium ankamen, war das für uns eine ziemlich ungewohnte Welt, was da als Schule rumstand. Und gegenüber wurde auch noch in einem Zimmerchen der accusativus absolutus gepaukt. Nun, so was waren wir in unserem gigantischen Kasten nicht gewohnt, der eine Unmenge von Platz bot, tausend Geheimnisse auf dem Speicher barg, aber langsam immer mehr und mehr vom Schülervolk entvölkert wurde, bis sich eine autonome Schule für den Betreiber nicht mehr rechnete.

Vertraut waren uns irgendwie nur die Lehrertypen, auch die weiblichen: Frau Schick unterschied sich als Lehrerin nicht unbedingt von Frl. Scherzinger („Gelt, den Griffel weg, Bursch!“). Bei den Männern stand Pater Bumiller hinsichtlich Bärbeißigkeit Herrn Schick in gar nichts nach. Natürlich konnte der standhaft getragene Hals-Propeller von Herrn Einert locker gegen die Rosenkränze der Weißen Väter um den Hals mithalten. Und Herr Sußmann war so jung wie Frl. Aldejohann. Nur war sie hübscher und hatte eine atemberaubende Kleiderkollektion. Und mir scheint noch heute, dass sie gut gerochen hatte. Das alles war vertraut und war auch in den Unterschieden gut so. Oder wer hätte sich Herrn Schick in Gandura (weißes Hemdkleid), Burnus (Umhang) und Schechia (der rote Fez) vorstellen können?

Verwirrung gab´s da für uns Männerbündler, oft gerade in der Pubertät, die wir nur dörflich rotwangige oder mild-betagte Küchenhilfen gewohnten waren, besonders an einem Punkt. Wir trafen sogar im gleichen Raum auf völlig neue - eher langbeinige und -haarige - Wesen vom andern Stern: wir trafen auf Mädchen in Fleisch und Blut, die nicht wenige gut dufteten und so intensiv-experimentell mit den Wimpern klimpern konnten, dass man es grad hören konnte. Die waren irgendwie anders als die nervenden kleinen oder altklugen großen Schwestern daheim. Oder die Pfarrhaushälterinnen, Mütter und stramme Pfadfinderführerinnen. Offiziell gingen diese Wesen uns natürlich weniger als nichts an, waren sie doch ein schmerzhafter Stolperstein auf dem Weg zum Zölibat. Nur unser Otto Mayer, heute Missionar in Ruanda, hat in dieser Frage ehern durchgehalten. Die anderen von uns wurden erstaunlicher Weise oft schwach, wurden Lehrer oder sogar Religionslehrer. In beiden Fällen ist der Zölibat nicht obligatorisch, wenn auch optional. Das Missionieren, die Lust am Beeinflussen und auf den rechten Weg zu bringen, hat sich also bei vielen Klepfern laizistisch sublimiert durchgesetzt. Diese Wesen, die wir heimlich beäugten und einzuordnen versuchten, manchmal sogar ganz zufällig im Vorbeigehen oder im Spaß scheu berührten, verfügten über ein süßes Gift, das gar drangvoll in manchen Traum hinein wirken mochte. Man konnte sogar mit ihnen reden, lachen, Blödsinn machen und eigentlich waren sie ganz nett. So nett, dass sich hier auch zarte Bande, die sogar bis heute halten, über alle Zäune ums Missionshaus und ernste pädagogische Ermahnungen hinweg geknüpft haben. Aufgenommen waren wir in der Klasse wirklich kameradschaftlich und gut. Es wird wohl kein Zufall sein, dass wir immer noch wissen, wer Max und Heide sind und gern nach Haigerloch zurückkehren.

Ob unsere Klassenkameraden damals sich unsere Internatswelt haben wirklich vorstellen können? Zum Beispiel was der Lehrer Pilo für eine Type war, die an Sadismus jeden Lehrer des Progymnasiums ausstach. Oder wie schwierig es war, von keiner fürsorglichen Mutter bei akuten Fieberschüben versorgt zu werden? Oder jedes Päckchen von daheim mit den Tisch-Kameraden teilen zu müssen. Und nicht mit den „Privat-Freundschaften“, die sehr unbeliebt waren, sei’s aus Furcht vor Sexspielen oder als Training für Afrika.

Raimund Pousset, 1959 – 1964


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