Radiomann

Lieber Klepfer,

aus den Erlebnissen ehemaliger Schüler entnehme ich, dass das Internatsleben vor ca. 1960 ein ganz anderes war als danach. Der große Schnitt deckt sich in etwa mit dem zweiten vatikanischen Konzil.

Davor war die kath. Kirche in der Gängelung der Gläubigen sehr fundamentalistisch und angsteinflößend, das menschliche Leben war danach letztlich ein Gang im Kraftfeld zwischen Gott und Teufel mit dem Endergebnis der Aufnahme in den Himmel oder ab in die Hölle auf ewig. Um das Erstere zu erlangen und das Letztere zu vermeiden entwickelten Kleriker ein immer weiter verästeltes System von Sünden bis hin zu Lächerlichkeiten , nachzu-lesen in den alten Beichtspiegeln. Motiv war nicht selten Herrschsucht, denn zerknirschte Untertanen, auch Schüler, lasen sich leichter lenken.

Superior Pater Hück trieb die Dinge auf die Spitze, sein Ziel war offenbar, mit verstärkter Abschottung nach außen und Inquisition nach innen das seiner Ansicht nach Weltlich-teuflische draußen zu halten um treffliche Missionare heranzuziehen. Man könnte auch sagen, dem Erziehungshobby eines weltfremden Menschen wurden 100 Kinder ab 10 Jahren überlassen. Das zweite vatikanische Konzil hat Fehler erkannt und die Menschlichkeit wieder mehr in den Vordergrund gestellt. In der Konsequenz war da kein Platz mehr für eine Missionshauserziehung à la Haigerloch.

Später Geborene werden die Vorkonzilszeit im Missionshaus kaum verstehen können und noch weniger die damaligen Hausregeln, nach denen man z.B. Tag und Nacht zusammen war aber nur in 3 Stunden von 24 privat sprechen durfte, an Einkehrtagen überhaupt nicht. In der Not lernten wir das Taubstummenalphabet per Hand- und Fingergestik (Ich kann’s heut noch) und beherrschten eine Fülle von Zischlauten, Armbewegungen und Grimassen um uns mitzuteilen – das lief nicht unter strafbarem Sprechen.

Bei den älteren Schülern entwickelte sich damals ein Untergrundpotential mit Aufstandstendenzen. Auch mein „Radiomann“ handelt vom Passiv-Widerstand mit unerwarteten Folgen. Ich habe in der Erinnerung ein paar Links eingebaut zu den alten Songs, die einziges Ziel unseres Radiohörens waren und die wir viel zu selten reinkriegten. Im Missionshaus war derlei Musik völlig tabu. Ausgewogenheit beansprucht meine Erinnerung nicht, aber es war so!

Michael S. 27.5.2014

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