Schlossberg-Träume

Es muss wohl Ende September 1957 gewesen sein. Ich war damals in Quarta und wir hatten vom Speisesaal kommend den zweiten Klassensaal rechts. Dieser Raum bot einen guten Ausblick auf den gegenüberliegenden Schlossberg. Es war kurz nach 17 Uhr; die Zeit des Studiums hatte gerade begonnen; wir als Quartaner hatten unsere Plätze im Klassensaal eingenommen und vorn auf dem Pult thronte ein Schüler der Untertertia, der die jüngeren Knäblein zu bewachen hatte. Er musste aufpassen, dass alle fleißig lernen, sich nicht mit irgendwelchen unpassenden Dingen beschäftigen, nicht lachen und nicht schwätzen. Und wenn jemand auf die Toilette musste, so schrieb er genau auf, wann der Schüler den Studiensaal verlassen hat und wann er wieder gekommen ist. Nur eines konnte er freilich nicht, nämlich in die Köpfe seiner Anempfohlen schauen. Und so blieb den Eleven nichts anderes übrig, als den Gedanken, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Hier ergab sich freilich ein großes, weites Feld, das nicht zuletzt angeregt wurde von dem herrlichen Ausblick auf den gegenüberliegenden Schlosstrakt mit Kirche. Da eröffnete sich eine wunderbare, goldene Pracht. Die herbstliche Abendsonne ließ Gebäude und Gesträuch zu einem harmonischen Miteinander zerfließen und dieses Panorama hat sich bis heute in meinem Herz verankert, trage ich auch nach fast 60 Jahren eine so schöne und ergreifende Impression in meinem Inneren.

Schlossberg

Abb. 1 Blick vom Missionshaus zum Schlossberg im Mai 2014; die Perspektive deckt sich in etwa mit dem Ausblick aus dem Klassenraum 1957.

Zugegeben, damals wusste ich dies gar nicht so sehr zu schätzen und zu dieser Zeit hat uns ganz anderes bewegt. Da habe ich dann von Dingen und Erlebnissen geträumt, die wir erst vor kurzem hinter uns gebracht haben: So etwa der letzte dreistündige (Pflicht-)Spaziergang am Sonntagnachmittag. Wir brachen mit dem weiß gewandeten P. Schröter in Richtung Trillfingen auf, jenes kleine urtümlich Dörfchen nordöstlich vom Missionshaus auf einer Hochfläche gelegen. Zunächst ging’s schnellen Schrittes den Annaberg hinunter und an der gegenüberliegenden Seite den Schlossberg hinauf und dann oben über Wald- und Feldwege in Richtung des kleines Örtchens. Meist hatte man rasch einen Weggefährten gefunden, mit dem man sich über die Alltäglichkeiten im Missionshaus oder über besondere Ferienerlebnisse unterhielt. Hin und wieder wurde auch über einzelne Mitschüler gelästert, besonders wenn diese sich etwa durch irgendwelche Tricks die Gunst der Patres erschleichen wollten. Meist ging der begleitende Pater am Ende, denn es sollte ja niemand zurückbleiben, um sich den Weg etwa abzukürzen.
War der Zielpunkt erreicht, hieß es, auf den Pater warten, um weitere Instruktionen zu erhalten. Trillfingen war damals noch ein abseits gelegenes Bauerndörfchen, ohne Kanalisation und befestigte Straßen. Man konnte noch gut das Grunzen der Schweine und das Muhen der Kühe vernehmen. Das hat die Missionsschüler wenig interessiert, kamen doch ein Großteil aus ebensolchen Dörfchen. In der Regel führte der Weg hinauf zur Wendelinus-Kapelle am Ortsrand. Obwohl es sich hierbei um eine Wallfahrtsstätte handelte, wirkte das Gotteshaus ärmlich und heruntergekommen. Einsprechend war auch das kleine Örgelchen auf der hinteren Empore sehr desolat und mangelhaft. Damals war es noch so, dass die Kirchen offen waren und auch der Zugang zur Orgel bzw. zur Orgelempore jedem ohne weiteres möglich war. Schon äußerlich war das Instrument äußerst kläglich; Prospektpfeifen verbeult und schief stehend, die Marmorierung des Gehäuses verkratzt und verunstaltet; die Füllungen locker. Der Wind musste noch mit einem Fußtrethebel erzeugt werden. Musikus P. Schöter entlockte dem 6registrigen Örgelchen zwar ein Lied, aber man hörte eigentlich mehr Mängel als wohlklingende Orgeltöne. Inzwischen hat die Fa. Stehle aus Bittelbronn 1979 das kleine Werk vermutlich aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder auf Vordermann gebracht und ihm die richtigen Töne beigebracht. Es hat heute 6 Register und ein angehängtes Pedal: Gedackt 8´, Rohrflöte 4´, Prinzipal 2´, Oktav 1´, Quint 1 1/3´, Mixtur 2fach 1´. Ein solches kleines, historisches Werk wirkte richtig von Hand gemacht und hat meine Bastlerfantasie beflügelt. Eine Skizze auf Schmierpapier gekritzelt ließ den Gedanken freien Lauf und war für den Aufpasser nicht nachvollziehbar. Ich erinnere mich, dass einmal unser begabter Künstler in der Klasse Peter Klein aus Aschaffenburg aus alten bleiernen Uhutuben einen kleinen Orgelprospekt gefertigt hat. Freilich brachte ihm das eine Strafe durch den aufsichtführenden Untertertianer ein.
Dennoch „die Gedanken sind frei“; Jahre später in Großkrotzenburg hat uns Musiklehrer Dr. Leucht diesen Text und Musiksatz beigebracht; er wurde dann oftmals gesungen und ist damals zu einem Standardsong von uns geworden, der bei vielerlei Gelegenheiten erklungen ist. Ich glaube, Dr. Leucht wusste wohl, was und warum er uns dies so ans Herz gelegt hat.

Wendelinuskapelle

Abb. 2 Die Orgel in der Wendelinuskapelle Trillfingen

Noch unverfänglicher war die fantasievolle Beschäftigung mit der St. Anna-Kirche in der Oberstadt. Das Gotteshaus ist ein barockes Meisterwerk. Immer wieder konnte ich mir die kleinen Faltbildchen, die wir als Schüler irgendwann einmal erhalten hatten, anschauen und dabei meine Gedanken "spazieren gehen" lassen: Was hat die Kirche schon erlebt! Wie viele Menschen kommen alljährlich zur Wallfahrt? Werden deren Gebete erhört?

Fuerstenloge

Abb. 3 Die Fürstenloge mit der einmanualigen Orgel, erbaut von Hieronymus Spiegel 1756 mit 7 Manual- und 3 Pedalregistern

Zugegeben damals hatte ich noch nicht so den rechten Blick für die Barockkunst und für die damit verbundene Harmonie von Formen und Farben. Aber es wurde etwas in mir grundgelegt, was mich bis heute begleitet. Vielleicht war es auch dieses Erleben, was mich dann später Theologie studieren ließ. Allerdings hat diese Mentalität mich auch etwas vom Missionarsberuf entfernt, denn Barock war für Afrika ein Fremdwort: Hier ging es um nüchterne Glaubensverkündigung; hier im afrikanischen Busch ging es um etwas ganz anderes; hier lebten Menschen, die so ganz anders waren, als wir. In meiner zu diesem Zeitpunkt noch kindlichen Naivität habe ich das alles sublimiert und wohl gedacht: Gott wird mich schon irgendwie auf den rechten Weg bringen, dass ich ein erfolgreicher, eifriger Missionar werde. Wie man uns damals bei den verschiedensten Gelegenheiten immer wieder gesagt hat: Der Missionarsberuf ist der schönste, den man sich vorstellen kann. Und als pubertierender Jüngling habe ich das auch recht unkritisch so angenommen. Aber meine Entwicklung ist anders verlaufen als 1957 gedacht. Und heute bin ich froh und überglücklich, dass es anders gekommen ist. Dass wir früher unsere Eindrücke nicht bildhaft festgehalten haben, ist mehr als verständlich. Einmal hatten wir nicht die heute existierenden (technischen) Möglichkeiten, zum anderen haben wir diese Alltäglichkeiten auch nicht für memorabel gehalten. Einen Fotoapparat konnte ich mir ohnehin nicht leisten und nur von zuhause einigermaßen finanziell gut gestellte Schüler – und das waren recht wenige – besaßen ein solches Aufzeichnungsgerät. Im Übrigen hätten die Patres eine derartige Kamera auch nicht ohne weiteres akzeptiert. Und so musste unser Erleben, unsere Gefühle auf andere Weise festgehalten werden, nämlich in unserer Erinnerung. Dabei ist anzumerken, dass diese „Festplatte“ einer gewissen Eigengesetzlichkeit unterliegt. Sie ist oft gar nicht so „fest“, wie man vermuten sollte, sondern sie setzt eigene Schwerpunkte, lässt manches verschwinden, anderes in neuem Licht erscheinen. So hat Haigerloch bei mir ein Fenster für die Kunst – und speziell für die Barockzeit - grundgelegt, das erst später geöffnet wurde, das aber so viel Licht hereinließ, dass es mich ein Leben lang erleuchtet hat. Und dafür bin ich zu tiefst dankbar. Und das führt mein Herz immer wieder nach Haigerloch zurück. Die damaligen Patres und Mitschüler haben zwar weitgehend keinen direkten Einfluss auf diese Entwicklung und auf dieses Werden gehabt, aber sie waren dennoch irgendwie Mittler, ohne die diese Entwicklung nicht geschehen wäre.

Stadecken-Elheim, 5. September 2016

Hajo Stenger

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