Der Tagebucheintrag

Obwohl Frl. Scherzinger, oder Madam, auf meiner Liste der beliebtesten Lehrer ganz oben stand, konnte ich es in der Quarta doch nicht lassen, die neu entdeckten physikalischen Eigenschaften eines Plastiklineals cum Papierkügelchen (mit Spucke zusammengeklebt) an ihr auszuprobieren. Ich legte das Kügelchen oben aufs Lineal, nahm sie ins Visier, bog das Lineal nach hinten und feuerte. Der Erfolg war so beeindruckend, dass auch mehrere Warnungen seitens Madam meine Aktivitäten nicht bremsen konnten. Schließlich wurde es selbst Frl. Scherzinger zu bunt, und sie beschloss, dem jungen Artilleristen (sprich Rüpel) einen wohlverdienten Eintrag ins Tagebuch zu verpassen. Sie nahm ihre ganze Autorität zusammen, setzte sich mit ernstem Blick hinters Pult, öffnete das Tagebuch und zückte den ... Ja, wo war er denn, der Kugelschreiber. Ausgerechnet in diesem Moment konnte sie ihr Schreibzeug nicht finden. (Ein später Gedanke: ob da wohl Freud mit im Spiel war?) Uns Klepfer hatte man im Laufe der Jahre neben vielen anderen guten Eigenschaften auch ein gerüttelt Maß an Hilfsbereitschaft vermittelt, was ich bei dieser Gelegenheit auf eindrucksvolle Weise beweisen konn-te. Ich zückte meinen Füller, eilte nach vorne, und bot der verblüfften Madam mein Schreibzeug an, damit sie mir den verdienten Eintrag verpassen konnte. Diese reagierte auf höchst ungewöhnliche und doch so menschliche Weise: sie konnte sich nicht mehr halten vor Lachen und beschloss auf den Eintrag zu verzichten. Wen wundert es, dass Madam bei uns allen so beliebt war.

Alfred Epple

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