Alte Zusammengehörigkeit neu erleben...

- wünscht Rudolf Vogel sich und anderen

Im Herbst 1947 entschloß ich mich, nach meiner Kaufmannsgehilfenprüfung (im April des darauffolgenden Jahres) einen anderen Lebensweg einzuschlagen. So fuhr ich denn nach Haigerloch, um mich dort über die Aufnahme von 'Spätberufenen‘ zu informieren.

Die Atmosphäre, der ich dort im Missionshaus begegnete, motivierte mich zu dem Vorhaben, bei den Weißen Vätern einzutreten. Deshalb nahm ich die notwendigen Unterlagen zur Aufnahme - dies allerdings für das Haus in Zaitzkofen — gleich mit. Allerdings musste ich zuvor noch Familie und Freundeskreis von meinem Entschluss überzeugen; dies ging jedoch schnell und problemlos. Auch die Bewerbungsformalien fur Zaitzkofen waren rasch getätigt. Zusammen mit der Zusage von dort erhielt ich auch den Hinweis, dass noch ein anderer Schüler (Siegfried Heiß) aus meiner näheren Heimat anreisen würde. Dies erleichterte mir den Abschied aus Weingarten. (Übrigens verließ uns besagter Siegfried Heiß nach der Schulzeit in Zaitzkofen und ging zu den Salettinern in die Schweiz, später als Missionar nach Afrika. Nach ca. 10 Jahren Missionstätigkeit kam er zurück und arbeitete als Religionslehrer im Bistum Essen. Kurz vor einem gemeinsam geplanten Wiedersehen erlag er einem Herzinfarkt.)

Zaitzkofen wurde mir zu einem tiefen Erlebnis. Ich erfuhr die Geschichte der Weißen Väter. Das Studium machte viel Freude, da die Lehrer, alles erfahrene Afrikamissionare oder Kriegsteilnehmer, nicht nur den gymnasialen Lehrstoff vemittelten, sondern auch vielfach Hilfe und Rat für den ins Auge gefassten Beruf anbieten konnten. Die niederbayrische Abgeschiedenheit war allerdings zunächst gewöhnungsbedürftig. Nicht einmal die Post fand immer den Weg zu ihren Adressaten. Da behauptete doch einmal der für unsere Post zuständige Briefträger, er könne im Moment jene Postkarte nicht finden, die er eigenflich für einen bestimmten Schüler in seiner Tasche haben müsse.

Doch dies sei jedoch wohl weiter nicht schlimm, da ja ohnehin nichts von Bedeutung auf besagter Karte gestanden habe.

Bis auf drei Mitschüler konnten wir alle nach Ostern 1950 nach Großkrotzenburg überwechseln. Dort waren wir nun eine recht stattliche Zahl von Gleichgesinnten aus allen deutschen Landen - und damit im wahrsten Sinn des Wortes: in babylonischer Spachverwirrung. Ein Aachener glaubte allen Ernstes, uns Schwaben in der Nähe von Königsberg ansiedeln zu müssen. Das ging schon sehr in die Nähe einer Beleidigung, wofür er dann auch bei einem der ersten Zusammentreffen auf dem Fußballplatz zu büßen hatte.

Apropos Fußball! Fußball war eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen Sobald ein neuer Mitschüler auftauchte, wurde er sofort nach seinen fußballerischen Neigungen befragt. Hans Gutschalk kann ein Liedchen davon singen. Jede Klasse war erpicht darauf, die Hausmeisterschaft zu gewinnen. Auch hatten wir eine eigene Schulmannschaft, die sehr erfolgreich gegen namhafte Mannschafien umliegender Schulen aus Frankfurt, Hanau und Gelnhausen kämpfte.

Die Umstellung von Zaitzkofen nach Großkrotzenburg mit den anderen Lehrern, den neuen Oberen, bei vermehrten schulischen Anstrengungen, auch der Verlust des ländlichen Fluidums - all dies fiel nicht so ganz leicht. Die Mitschüler waren durch die Bank jünger und hatten keinerlei 'Respekt' uns Älteren gegenüber. Nur schwer und langsam gewöhnte man sich an die Strenge der Erziehung, die für Jüngere wohl eher angebracht war als für uns alte Fahrensleute. Einmal glaubte der sittenstrenge P. Freckmann, er habe beim Besuch der Schwester eines Mitschülers aus der Umgebung ein 'sonderbares Flackern' in meinen Augen ausmachen können, was Anlass zum Hinweis wurde, doch noch einmal die Berufung zu überdenken! Doch auch trotz solcher Vorkommnisse fühlte man sich insgesamt im Hause und im Kreis der Mitschüler wohl. Meinungsverschiedenheit in Fragen der missio- narischen Orientierung gab es so gut wie nie. Wenn Störungen autraten, dann allenfalls im täglichen Miteinander.

Jeder der 150 Schüler mußte täglich Arbeiten in Haus und Garten verrichten. Die vielen hungrigen Mägen brauchten Kartoffeln und Gemüse. In meiner langen Zeit als 'Kartoffelminister‘ oblag es mir, stets für die notwendige Menge geschälter Kartoffeln zu sorgen. Um die zum Schälen bestellten ‘Jungs' jedoch an die Arbeit zu bekommen, bedurfte es häufg eindringlicher Appelle und Ermahnungen, denn die für die Arbeit vergesehene Zeit war knapp bemessen. Entsprechend laut war dann auch der Protest der Mitschüler, die nie zuvor ein Schälmesser in den Händen hatten. Alle diese Tätigkeiten waren übrigens eine gediegene Vorübung für das spätere Leben in Afrika.

Auch als Frisör durfte ich wirken. Der 'Vogelschnitt' sprach sich schnell herum, was mir zum Glück gereichte, weil sich dadurch kaum Kundschaft bei mir einstellte. Die dabei erworbene Berufserfahrung jedoch kam mir später bei den Benediktinern zugute. Nur war der dort gebotene "gezielte Kahlschlag" einfacher als der Faconschnitt selbstbewußter Oberschüler, die beim Gang durch das benachbarte Dorf Großkrotzenburg nicht unbedingt als der Missionsschule zugehörig erkannt werden wollten. Übrigens ein törichter Wunsch, da man uns doch, ohne dass wir es merkten, stets richtig zuordnete. Auch als Infirmeriegehilfe (auf deutsch: Krankenhelfer!) konnte ich Erfahrung sammeln. Der heutige Pater Rudolf Kriegisch verdankt mir hoffentlich bis heute seine Immunität gegen Erkältung, hatte ich doch einmal vergessen, ihn rechtzeitig aus dem altmodischen und gegen alles wirksamen Bogenlampenkasten zu holen. Pater Hirt, damals für die kranken Schüler zuständig, war sauer, daß ich den erkälteten Mitschüler statt der vorgesehenen 10 Minuten lange 35 Minuten, in den ‘Schwitzkasten‘ genommen hatte. Für mein ganzes Leben bleibt mir jedoch die erfolgte Phillipika über die möglichen Folgen der Überziehungszeit.

Dass ich einmal beim Fußballspiel - und dies im Eifer des Gefechts - einem Mitschüler einige Zähne aus dem Oberkiefer schlug, war darauf zurückzuführen, daß er beim Köpfen des Balles im Sprung bereits wieder nach unten kam, während ich mich erst anschickte, nach oben zu starten. Zwar war mein Timing fußballtechnisch total erfolgreich, doch er war seine kostbarsten Zähne los. Glück im Unglück insofern, dass der 'Zahnlose' über seinen Vater so gut versichert war, dass schon bald niemand mehr die echten von den unechten Zähnen unterscheiden konnte.

Die hier berichteten kleinen Erlebnisse aus der Internatszeit haben uns sicherlich damals bewegt und beschäftigt, waren wir doch von der Außenwelt gut abgeschirmt. Und das gab selbst bescheidenen Alltäglichkeiten ihre große Bedeutung.

Viele unserer damaligen Mitschüler sind Welt- Oder Ordenspriester geworden, im Inland oder als Missionare, und haben undenklich viel Gutes und Segensreiches geleistet. Wir, die wir uns 'berufen glaubten, aber nicht auserwählt waren', haben über Jahrzehnte versucht, in anderen Bereichen unseren Mann zu stehen.

Die regelmäßigen Treffen in Haigerloch und Trier erleben wir heute im Gefühl alter Zusammengehörigkeit. Über viele Jahre sind wir Freunde geblieben, haben uns vielfach gegenseitig gestützt und begleitet. In den 27 Jahren meiner Berufstätigkeit in einem Alten- und Pflegeheim der Caritas habe ich an die 30 meiner ehemaligen Mitschüler als Seelsorger zur Durchführung von Einkehrtagen und zur liturgischen Gestaltung von Feiertagen eingesetzt. Dies waren immer Glücksfälle, auch von meinen Heimbewohnern stets als innere Bereicherung empfunden, haben doch die wenigsten von ihnen früher die kirchlichen Feste so unmittelbar erleben können.

In all den Jahren zwischen der Internatszeit und heute sind einige unserer Freunde in die Ewigkeit abberufen worden. Sehr stark getroffen hat mich kürzlich der Tod meines wohl besten Freundes, Paul Hartleib (Pfarrer in Thüringen). Er war mir und meiner Familie über viele Jahre sehr eng verbunden. Trotz weiter Entfernung hatten wir wenigstens einmal in der Woche Telefonkontakt. Er kam immer gerne, wenn auch unter erheblichen Schwierigkeiten, zu unseren Treffen, weil er sich einfach - wie viele andere auch - im Kreise der Ehemaligen zuhause fühlte.

Wer hätte es gedacht: die Jahre des Zusammenseins in den Misisionsschulen haben uns zu einer unverbrüchlichen Weiße—Väter-Gemeinschaft - nun schon über ein halbes Jahrhundert hinweg — zusammengeführt. Die Weißen Väter haben uns geprägt und unser Leben stark beeinflußt. Dafür bin ich ihnen zeitlebens dankbar.

Noch haben einige unserer früheren Mitschüler den Weg zurück zu uns nicht gefunden. Ich glaube jedoch, wir werden sie überzeugen können, in den noch verbleibenden Jahren jene bereichernden und auch ein bisschen nostalgischen Begegnungen gemeinsamer Vergangenheit mit uns zu erleben. lch für meine Person möchte diese nicht missen und wünsche mir und all den anderen noch häufiges Treffen mit intensivem Austausch in Haigerloch und in Trier.

Rudolf Vogel

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