Warum Blicke zurück

von Jochen Schulz

Sie sollen zwar auch der Vergangenheitsbewältigung dienen: die vielen und ganz normalen Klassentreffen überall, die regelmäßig sich wiederholenden Jahrgangsfeste und auch die oft in der Art des vom Hühnerzuchtverein organisierten „Wettbewerb um den schönsten Gockel“ daher kommenden offiziellen Jubiläen. Sie wollen Erinnerungen ins richtige Licht rücken, die vorab gesammelt und als nackte Tatsachen in die historischen Klamotten von fallbezogenen Umständen gezwungen werden.

Wir mittlerweile routinierten ‚Altertumsforscher‘ wissen jedoch inzwischen: Immer bedarf es eines tiefer gründelnden Befassens mit Ursachen, Absichten, Zielen, Prozessen und Begleitumständen wie auch der Einsicht in Befindlichkeiten und Bewusstseinsströme der involvierten Akteure, um Bewältigung zu erledigen im Sinne von Begreifen, Bewerten und Wertschöpfen. So auf jeden Fall bisher immer erlebt und immer wieder zu erleben beim ernsthaften Ausloten und Zuordnen der Ergebnisse unserer Spurensuche nach Erinnerungen und Eindrücken von jener Kurzstreckenschleife „Haigerloch“, auf der wir damals unsere Runden gedreht haben.

Dies klingt auf der einen Seite wie „Hoch die Tassen“ auf uns, die wir es gelebt und überlebt haben, wie gleichermaßen auch auf die, die sich mit „Mehrwert für uns““ damals als Streckenposten engagiert haben. Doch ist es auf der anderen Seite - und um es genau festzumachen - doch eher ein „Toast mit „Hose runter lassen!“, und deswegen manchmal auch etwas peinlich und nicht durchgängig erwünscht. Man schleppt dabei zwar nicht gerade weder seine eigene Schmutzwäsche, noch die anderer zum Waschen auf den Marktplatz, doch ein wenig öffentlich zur Schau gestellt wird sie schon. Und in der Tat: Es gehört schon Mut zum Bekenntnis dessen, was da lebensprägend mit einem zugange war, und/oder was man selbst - aus allen erdenklichen, nicht immer unbedingt ruhmreichen Gründen – zugelassen hat oder auch nicht, wo und wie man sich diese oder jene Narbe/auch Macke eingehandelt hat, was da und dort final und definitiv mit einem geschehen ist. Es gehört schon eine ganze Menge zu dieser Art „Bewältigung“ im Gestehen dessen, was die Phase als ganze und die Begebenheit im Einzelnen mit einem gemacht haben oder auch man selbst mit der Begebenheit.

Fleiß und Ernsthaftigkeit, mit denen wir nicht nur Fakten-Akquise betreiben, sondern auch die Ergebnisse auszuwerten versuchen, lassen die oben zitierten „Gedenkfeiern“ wie Kaffeeklatsch-Kränzchen aussehen. Die Bedeutung dieses Unterfangens, die wir der Hintergrundforschung – der persönlichen wie der institutionell-kollektiven - im Konzert mit einigen anderen beimessen, ist allein schon auszumachen am Aufwand an Begleitakrobatik, den uns dieser Lebensabschnitt im Vergleich mit dem großen anderen Rest des Lebens auf ganz eigene Weise und ‘sine fine‘ abnötigt. Eines muss man unserer Zeit in Haigerloch lassen: Sie kommt extravagant und damit spannend daher. Immerhin so, dass das Erinnern an diesen Lebensabschnitt alte Beziehungen aufleben, Urstände -urige und andere - feiern lässt, bislang Treffen organisiert, Kommentare bis hin zu Büchern gebiert, Stadtreisen inszeniert, Webseiten einrichtet, Austauschforen veranlasst, Gedankengänge auf Trapp bringt, Gespräche anleiert, Witze erfindet, Betroffene beschäftigt… Und wenn sich diese „Treffen mit ganz unterschiedlichem Gesicht“ erheblich von üblichen Jahrgangsfesten und Schuljubiläen in Inhalt und Ritualen unterscheiden, spricht dies eine deutliche Sprache dafür, dass Ungewöhnliches Pate gestanden haben muss, denn nur das kann Besonderes aus der Taufe heben. Ob etwa die Beachtung der damals stark hormongesteuerten ‚mystischen Höhenflüge“ – Ausnahmezustände in der menschlich-individellen Entwicklungskette - der neuerlichen Befassung mit diesen Phänomenen zusätzlichen Schub verleiht? Oder ist es doch nur der gute, alte Herdentrieb, der da Wesen gleichen Geschlechts, gleichen Alters, gleichen Zieles immer wieder zusammentreibt, die sich vor Zeiten in denselben Mauern und zu derselben Zeit im gleichen Dunst einer durch das regulierende Diktat einer für alle gleich portionierten Behandlung per Zufall gefunden hatten? Dies ganz bestimmt nicht, denn es spricht vehement dagegen, dass der weitaus größte Teil der Herde ohne jeden Mucks und auf Dauer in der totalen Versenkung verschwunden ist. Ob denn Beweggründe und Motivation nicht besser und leichter anderswo zu finden sind – vielleicht näher am Epizentrum jener ganz persönlicher Betroffenheiten, die jeder damals mit sich gebracht und in ständig sich veränderndem Zustand – auch Umstand - immer mit sich herum getragen hat?

Fakt bleibt, dass uns Verbleib und Verweildauer in den Mauern des Missionshauses immer noch - nach jetzt gut einem halben Jahrhundert - dermaßen beeindrucken, zwar nicht rund um die Uhr, aber immerhin beachtlich intensiv. Und man beachte: Dies sogar noch fünf Minuten vor dem eigenen Zwölf-Uhr-Schlag, so als müssten eben noch ein Geheimnis gelüftet oder eine Leiche aus dem Keller gebuddelt werden – zur Bereicherung, zur Befreiung oder zur Belastung. Und dass das (‚denk mal!‘- artige) Objekt der Leidenschaft - das also sowohl Leiden schaffen als auch emotional hochkarätig abgerufen werden kann - praktisch nur noch in unseren Gehirngängen herumgeistert und mit den aus den Schaumkronen unserer in Erinnern geronnenen Gefühlen von damals an die Molen unserer Seelen klatscht, macht diese Umtriebe nur noch wertvoller und liebenswürdiger, nachdem das Heiligtum - der Gesinnungs- und Besinnungstempel nämlich- mangels Leben (Personal) und Belebung (Verwendungszweck) nicht mehr vorhanden ist.

Doch gar nicht so übel, würde ich behaupten, wenn wir uns - und hier einmal als gefühlte Hauptpersonen, Betroffene, Leidtragende - nenne es, wie Du magst – ja, wenn wir Ehemalige aus der Internatsschule, die wir den Budenzauber um ‚früher‘ veranstalten, uns auch mit Blick auf die eigene Uhr, nach all den bisher üppig und gern veranstalteten bengalischen Blitzgewittern der Begegnungen, die Realitäten hinter dem Gestöber: die Fundamente und tragenden Elemente nämlich , die unter dem Etikett ‚Missionshaus Haigerloch‘ firmieren, zur Brust nehmen und kritisch gegenüber uns selbst und all dem, womit diese Strecke gepflastert war (und auch all den Pflasterern!), heute nach ihrem tiefen Sinn für uns ganz persönlich befragen. Vielleicht sagst Du, lieber Leser:“ …als hätten wir sonst nichts oder nichts Besseres zu tun.“

Bitte: Wenn wir ‘Besseres‘ haben, dann sollten wir es unbedingt tun und vorbehaltslos gelten lassen, genau wie die beiden anderen wichtigen Gesichtspunkte auch, nämlich: Dass es sich bei unserem „Haigerloch-Memorial“ ausschließlich um eine Rückbetrachtung handelt und beileibe nicht um einen neuen Lebensentwurf, und auch nicht - wie ein Ehemaliger neulich lustig, nicht lüstern, von sich gab – gar um „ein streckenbezogenes, subversives Abrechnungsmodul für ein Stück Vergangenheit“. Zum anderen muss gelten, dass es immer und ausschließlich um die eigene, ganz persönliche Geschichte geht, um eine Betrachtung also, die auf der Grundlage identischer Fakten ganz unterschiedliche Wahrnehmungsergebnisse je nach Blickwinkel, vor allem Bewertungen, Emotionen inbegriffen, zulässt. Auch darf eine Beurteilung von Gewesenem, die in den Weichteilen unseres geistigen Innenlebens Gültigkeit und Stimmigkeit erheischt, nie anderen gegenüber zu Maßstab und Messlatte per ordo di Mufti mit „Ex- Cathedra-Charakter“, erhoben werden. Genau wie die Aussagen über das in Haigerloch Erlebte immer die DNA dessen aufweisen muss, der sich da zu Markte bringt, so läuft doch auch das Erleben selbst in der relativen Befindlichkeit des Erlebenden, und dies angesichts seiner eigenen Veränderungsprozesse und inmitten einer stets im Wandel begriffenen Umwelt und ihrer Faktoren. Als Fazit für unser Anliegen und Tun heißt dies: Ein für möglichst viele durchgängiges Ergebnis ist fraglich, die Suche danach für den Einzelnen jedoch spannend und ersprießlich! Und darum bleiben wir – weil es, wie gesagt, so schön ist – am Ball/ auf der Suche!

Und was ist, bitteschön, mit den ganz vielen, ja den meisten, die den Weg mit uns gegangen sind: All die inzwischen verstorbenen Patres, Brüder, Schwestern, Hauspersonal, Lehrer … Aber auch die, die nach unserer gemeinsamen Begegnung dort und damals nichts anderes und nichts dringlicher zu tun hatten, als in der Versenkung und im Vergessen zu verschwinden – Die „Auf- Nimmer-Wiedersehen Verschwundenen, die nicht wie wir Laut geben können oder wollen? Ist ihr Schweigen etwa Ausdruck dafür, dass sie unser Treiben für Pippifax und Kinderkram halten oder dass sie dermaßen die ‘Schnauze voll hatten ‘ von dem ‘Haigerloch von ehedem‘? Oder melden sich da etwa negativen Folgen aus dem Haigerlocher (weltfremden) Erbe, die sie zu buckeln hatten; steht ihr Schweigen heute etwa als Menetekel , doch „In-Ruhe gelassen“ zu werden?

11.7.2018