Mein Weg nach Haigerloch

von Jochen Schulz

1.Plädoyer für einen emotional/solidarischen Kraftakt

„Haigerloch“, nestbeschmutzungsfreier Sammelbegriff für die unterschiedlichsten unseren Aufenthalt damals charakterisierenden und kommentierenden Funktionen (Haus mit besonderer Mission, Erlebnispark, Kraftbude, Wolke 7, Trainingslager, Früh-/ oder Mistbeet, Ideologieschmiede, Menschenveredelungsstätte, Heilanstalt, Auffanglager für Fernwehanfällige, Haierles-Klitsche, Tränental, Tugendbeschleuniger, Gehorsamsversuchsanstalt) dieses Haigerloch hat nun leider endgültig dicht gemacht. Wohl ließe sich jetzt spaßeshalber eine Umfrage darüber ausloben, welcher Begriff wohl am besten klingt, nicht aber, welcher am ehesten zutrifft, hat doch jeder von uns seine eigenen Erfahrungen in und mit dem Haus gemacht; auch könnten die heute geltenden Beurteilungen morgen schon wieder ganz andere sein, aufgrund veränderter Kriterien. Jede Berichterstattung ist halt immer auch Interpretation.
Es bleibt für die vor verschlossenen Toren Bedauernden, was ja unbedingt positiven Bezug zu Haus und dem einstigen Leben dort signalisiert, immerhin eine ganze Menge gutes Erinnern an das, was uns das Haus noch bis neulich geboten hat: Die Erinnerung an früher von Menschen und Fakten. Und exakt dieses Erinnern nimmt Freddy nun zum Anlass seiner Bitte, dem „Wir-Bezug“, der locker/losen Zusammengehörigkeit, die wir im Laufe der Jahre in vielerlei Begegnungen im Gemäuer unserer Kindheit mit ganz unterschiedlichen Ritualen zuerst erlebt und dann später zelebriert haben, altersgerecht neues Futter zu geben. Das könnte eine (kurze) Rückschau sein, warum, wie und mit welchen Erwartungen wir damals nach Haigerloch gegangen/ gekommen sind. So könnten wir bei historischem Objektbezug in einer Art von „imaginärem Sitzkreis“ in Tuchfühlung bleiben zu gemeinsamer Geschichte, und damit zu uns selbst, solange dies noch geht. Und wer dann etwa auch noch Eindrücke von ehedem in den dicken Schichten seiner vom Gedächtnis gestapelten Ablagen aufstöbert, bitte ja nicht in den Müll damit, sondern einfach mit dazu packen! Der vom Alter gereifte bedächtig-genüssliche Dank der Lebens- und Leidensgenossen von damals ist ihm gewiss - wie das Wissen darum, dass uns nicht mehr unbegrenzt viel Zeit dazu verbleibt. Doch warum nicht uns selber einer doch sehr speziellen und ersprießlichen Geschichte erhalten – mit der Preisgabe unserer Spezialitäten aus Haigerloch - unbeschadet, wer sie sich zu Gemüte führt.!

2. Teil: Ich und Haigerloch

Da mich mein Leben eigentlich von Anfang an stark getackert hat, sind mir schon recht frühe Ereignisse und Umstände wie Nähte erinnerlich geblieben. Da mein Verbleib damals in Haigerloch ursächlich damit zusammen hängt, darf ich meine Entscheidung als kleiner Junge, dorthin zu gehen, ausweisen als dem Zufall gedankt, meiner eigenen Geschichte bis dahin geschuldet und von heftig belastenden kriegs- und nachkriegsbedingten Umständen beeinflusst.
Vor Haigerloch habe ich eine frühe, sonnige Kinderzeit in einer ‚Künstlerfamilie mit ganzem Programm‘ erleben dürfen: die Mutter Schauspielerin, mein Vater Journalist und Kinderbuchautor. Beide waren - in meiner Bewertung heute – dazu auch noch Lebenskünstler – anthroposophischer, nonkonformistischer Prägung - also alles andere als konservativ-katholisch. (Ich bringe dies hier so dezidiert ein, weil ich so manches davon im Verlauf von Kindheit und Jugend innerlich verdauen und bewältigen musste). Ich sehe heute diese Zeit damals als liebevoll, annähernd anti-autoritär und fern ab jeder religiösen Bindung. Nach vier/fünf Jahren auf diesem erwähnten Sonnenhang fiel meinem Vater plötzlich ein, sich scheiden und seine bisherige Frau mit zwei kleinen Kindern sitzen zu lassen. Dies hatte zur Folge, dass meine manchmal überkandidelte Mutter sich ihrerseits von allem trennte, was sie irgendwie an ihr Leben mit meinem Vater erinnerte. Und so landeten meine ältere Schwester und ich in einem Waisenhaus. (Dazu nur so viel: Der Heimaufenthalt dort hat mir später eine ganzes Menge Haigerlocher Treibens“ nicht nur leichter ertragbar, sondern in der Bewertung ‚erlösend-angenehm‘ gemacht - und hatte somit seinen Sinn, den ich allerdings erst in einer späten Rückschau erkannt und vor allem anerkannt habe. Auf jeden Fall kannte ich mich von Anfang an aus in vielen der geführten und nicht geführten Gruppenprozessen.) In dieser Zeit verstarb meine Mutter – wohl an Herzeleid. Doch erst unmittelbar vor Kriegende wurden meine Schwester und ich – quasi per Zwangsvollstreckung – der Sorge meines inzwischen wieder verheiraten Vaters unterstellt und siedelten um vom Heim in eine andere, uns fremde Familie, in der wir alles andere als willkommen waren, was wir auch zu spüren bekommen haben. Allerdings befand sich im Gefolge der neuen Frau meines Vaters eine zwar leicht gestörte, doch gütige und gläubige, junge Frau, die uns das Beten beibrachte und dafür sorgte, dass wir am Leben der katholischen Gemeinde (Gottesdienst, Gruppenstunden etc.) teilnahmen, für mich willkommene Gelegenheiten, meinem „Zuhause“, was ja keines war, zu entkommen. Diese Frau, die ich wegen ihrer bigotten Art nicht mochte – sie starb später als Augustiner-Nonne in Offenburg - war immerhin ein ganzes Stück richtungsweisend für mein Leben – wofür ich ihr bis heute dankbar bin. Und genau hier kommen nun die Weißen Väter ins Spiel. Ich, damals 10 Jahre Haigerloch) wurde wegen Unterernährung nach Bad Imnau, nahe Haigerloch, „kinderlandverschickt“. Von dort aus besuchte meine Erholungsgruppe auch den damals schon haarlosen, ausgestopften Löwen des in Freddy’s Webseite erwähntem Afrika-Museums. Und dort habe ich dann auch sofort Feuer gefangen, als ich auf dem Schulhof eine fröhliche Horde von Jungs - ungefähr in meinem Alter - herumspringen sah und erfuhr, dass man sich in diesem Heim auf ein Leben als Missionar in Afrika vorbereite. Ich wusste zwar nicht, was das war. Doch fand mein Kindergemüt die Information dermaßen aufregend und spannend – „auch als Perspektive für mich“ ,sage ich heute, dass ich unmittelbar danach über meinen Heimatkaplan alle Hebel in Bewegung setzte/setzen ließ, um auch dorthin zu kommen, von wo ich einen für mich so tollen Eindruck mitgenommen hatte. Ich muss mich wohl der Sache durchaus gewachsen gefühlt haben: Heimweh war bei meinen häuslichen Gegebenheiten nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Ich war froh, von dort weg zu kommen. Zudem – das darf ich spaßig vermerken – fühlte ich mich mit dem geistlichen Personal (Patres) so was wie verwandtschaftlich liiert, war ich doch inzwischen Messdiener, der zwar nur als „Verzierung“ im sonntäglichen Hochamt in Aktion treten durfte, aber immerhin schon mal an der untersten Sprosse der kirchlichen Hierarchie angekommen war. Und „Afrika“ und „Mission“ – das hörte sich für mich an wie: „Spannung und Abenteuer“ – war also eh ein Thema für Leute wie mich, deren Sicht aufgrund ihres Alters und mangels Erfahrung noch nicht getrübt war. Und so kam es, dass ich mit meinem Köfferchen schon ein halbes Jahr später auf ureigensten Wunsch und auf selbsttätige Veranlassung als Mini-Missionar (so fühle ich mich in der Tat) in Haigerloch eintrudelte.
Dort begann nun eine für mich recht abenteuerliche Reise, die sich in ihrem Verlauf dermaßen spannend gestaltete, dass ich heute bei ihrer Nachbetrachtung meine, noch immer „auf Strecke“ zu sein, denn Haigerloch wurde mir in der Tat – und dies bis heute – zu „meiner Heimat“. Dies durch das Zutun der Patres und Brüder, deren Verhalten, wenn schon mal nicht in meinem Sinne, ich - im Gehorsam erprobt und sicherlich auch manchmal mangels anderem – aushalten und oft sogar auch verstehen konnte; wobei das Verstehen dann aber den Gehorsam eher überflüssig machte.
Zur Heimat wurde mir Haigerloch vor allem durch das kameradschaftlich/mitbrüderliche Miteinander mit meinen „Lebensgefährten“. Die tatkräftige Hilfe - durch erklären, abschreiben – dies absolut nicht im Einklang mit der Hausregel (die fast himmelhoch über den göttlichen Geboten stand!) ließ mich z.B. die durch den Ausfall von fast zwei Grundschuljahren am Ende des Krieges entstandenen Lücken peu à peu schließen. Doch vor allem habe ich durch diese Freunde, was sie in der Tat waren, aber eigentlich nicht sein durften, aufbauende Akzeptanz erfahren. Ich wurde spürbar „Gleicher unter Gleichen“, was ich ja nicht kannte. Auch bekam ich durch sie etwas ganz Geschwisterliches geschenkt, quasi ein Stück Familie, die mir abhanden gekommen war und die ich übrigens damals in Haigerloch nie erwähnt habe, weil ich mich ihrer schämte und auch Angst hatte, meine Daseinsberechtigung dann zu verlieren, wenn bekannt würde, aus welchem Sündenpfuhl ich denn stammte! (Ich vermute, mein Kaplan muss wohl beim Fragebogen über die Aufnahmebedingungen ins Missionshaus schwer getricks haben, denn nie kam der heftige Aufnahme-Hinderungsgrund zur Sprache, dass meine Eltern nicht kirchlich getraut waren und ich somit unehelich. Erst später (im Priesterseminar) wurde mir dieser ursündige Zustand/Misstand, für den ich ja nun wahrlich nichts konnte, aufs Brot geschmiert. Man hatte wohl inzwischen etwas gründlicher Aktenstudien betrieben.
Zur Frömmigkeit in Haigerloch, deren Ausübung einen recht üppigen Teil unseres bewussten und aktiven Lebens beanspruchte, möchte ich sagen:
Ihre Bedeutung konnte ich schon als kleiner Junge an den zahlreichen und nicht enden wollenden Gebetszeiten feststellen, die ich als zum Marschgepäck eines zukünftigen Missionars gehörig voll anerkannt habe. Außer an Rosenmontag, da bekam ich mit der Frömmigkeit so meine Probleme. An diesem einen Tag im Jahr, an diesem Tag, den ich in meiner kindlichen Unbekümmertheit mit eitler Freude vereinnahmte, fiel es mir schwer, nachmittags in voller Besetzung für die Schlechtigkeiten und Laster der unzüchtigen Menschen „da draußen“ auf die Knie zu gehen und zu beten, von denen ich meinte, weil man ihnen so viel suspekt angehauchte Beachtung schenkte, sie kämen von einem anderen Stern (also heute Alliens!) und wollten unsere Erde zerstören.
Doch da gab es zum Glück ja noch das „Miserere!“, mein ganz persönlicher frommer und geliebter“ Nachtisch“, den ich zur Illustration meines kindlichen Gemütes und dessen frommen Ausbrüchen hier zur Sprache bringen möchte. Soviel schon vorab: Mit diesem Psalm ist meine kindliche Frömmigkeit voll auf ihre Kosten gekommen. „Miserere me, Deus…“ diesen ellenlangen Bußpsalm rezitierten wir jeden Tag nach dem Mittagessen in Prozessionsform beim feierlichen Gang vom Speisesaal zur Kapelle, wo wir der Toten gedachten, vorbei an der etwas unbeteiligt dreinschauenden Büste des Nährvaters Josef. Doch vielleicht war dies auch der einem Arbeiterpatron angemessene Gesichtsaudruck. Anfangs wunderte ich mich darüber, dass meine gleichaltrigen Prozessionsteilnehmer dermaßen laut die Psalmverse schmetteren, bis ich mitbekam, dass dies weniger Bußgeschrei wegen schlimmer Vergehen war, sondern dass hier ein stimmgestützter Wettbewerb darum tobte, wer denn den lateinischen Text des Psalmes am besten beherrschte, was zur Folge hatte, dass man den Text möglichst hörbar seiner Umgebung präsentierte. Abgesehen davon, dass ich nie verstanden habe, warum hier gebüßt wurde und wofür - ob denn da jemand eben zu viel gegessen oder einem anderen etwas nicht gegönnt hatte? – also abgesehen davon habe ich diesen feierlichen Bußgang sehr gemocht und hoch eingeschätzt. Wahrscheinlich weil ich mich da als „Hänfling“ der ich war, nicht gerade als Mönch ersten Grades, aber doch immerhin von der Ernsthaftigkeit her, mit der ich da unterwegs gewesen bin, als ernstzunehmenden Nachwuchsmönch einschätzte; sagen wir mal :“als Klösterling!

Jochen Schulz 29.6.2018

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