Ein Wettbewerb, der echt in die Hose ging

Der
Speisesaal Die für uns 'Klösterlinge" irdisch wichtigsten – weil lebenserhaltenden Übungen damals im Missionshaus waren die von der Tagesordnung (Regel) vorgesehenen gemeinsamen Mahlzeiten, vor allem die beiden großen: das Mittag- und das Abendessen. Und wie selbstverständlich gehörte es sich für ein pseudo-klösterliches Internat, wie das in Haigerloch, nicht einfach in einem Ess-Saal, sondern in einem 'Refektorium' zu speisen.
Auch die andere monastische Verpackung dieser doch ansonsten recht sinnlichen Triebbefriedigung, wie sie die Atzung nun mal ist, machte das kollektive Essenfassen immer wieder zu einem beinahe mystischen Unterfangen: Die langen Gebete nämlich, die die Mahlzeiten einleiteten, wie auch abschlossen. Zum Glück für unseren unbändigen Hunger dauerten sie nie länger als das Essen selbst. Natürlich wurden sie im Respekt vor den auf den Tischen vom Herrgott bescherten und vom Küchenpersonal zubereiteten Gaben stehend und – wie halt einem Kloster geschuldet - in Latein verrichtet - was sie im Gegensatz zu der Atzung auf den Tischen, deren Beschaffenheit sich schon erriechen ließ, unergründlich machte. Als bemerkenswert bei dieser frommen Einleitung zu profanem Tun nahm sich die auf eine Pater-Noster-Länge festgesetzte, integrierte strategische Schweigeminute aus; strategisch deshab, weil diese Momente auch schon mal für neugierige, nein: eher gierige Blicke aus den Augenwinkeln auf den dampfenden Inhalt in den irdenen Schüsseln und Töpfe herhalten mussten.
Wichtig zum besseren Verständnis dieser kleinen Episode ist der Umstand, dass in den End-4oer-Jahren die Winterzeit in dem eh schon rauen Haigerloch viel eher und auch strenger einsetzte als heute, auch muss man bitte verzeihend zur Kenntnis nehmen, dass die üblicherweise den männlichen Exemplaren der Menschheit vorbehaltenen Eitelkeiten auch an den Türen unseres Heimes nicht haltgemacht und uns hin und wieder in Versuchung geführt haben. Will heißen: Wir Quintaner hatten uns im Oktober des Jahres meiner Story zu einem Wettbewerb entschlossen, der wohl weltweit seinesgleichen suchte, also einzigartig war, und bei dem es um die Ehre - und um nichts als um die Ehre - ging. Wir wollten nämlich unter uns ausmachen - und dies ganz im Geiste der klösterlich/körperlichen Abtötung, zu der wir ja im überaus ausgeprägten Bereich der 'überirdischen' Übungen angehalten wurden – wer wohl am längsten in der inzwischen empfindlich kalt gewordenen Jahreszeit mit kurzen Hosen herumlaufen könne. Der von uns 'jungen, christlichen Asketen' umfunktionierte Wettkampf der Eitelkeiten nahm seinen Lauf und schrieb folgende Geschichte:
Unser Durchhaltewettbewerb „Kurze Hose“ lief immer noch, zwar auf seinem allerletzten Zahn, befanden sich doch nur noch zwei Wettbewerber im Ausscheidungsverfahren. Die anderen hatten die Segel gestrichen; sprich: die kurzen Hosen inzwischen mit langen vertauscht. Wir alle verfolgten gespannt das Geschehen und bibberten im Mitgefühl mit den tiefgekühlten, blauen Beinen der beiden übrig gebliebenen Wettbewerber. Doch dann trat urplötzlich die höhere Gewalt auf den Plan und setzte - wohl aus Mitleid mit den nackten und kalten Beinen - dem Kampf um die Krone ein jähes Ende. Und das kam so:
An einem schönkalten Oktober-Tag stellten wir uns wie üblich zum Mittagessen stillschweigend an unsere zugewiesenen Plätze im „Refektorium“. Mit voller Stimme und mit leerem Magen schmetterten wir das kirchliche Tischgebet „Oculi omnium“, bis zu jener Stelle, an der der Hausobere mit dem Ruf: „Pater noster“ den Moment der Stille einläutete, wodurch jeder potentielle Esser angehalten wurde, das Vater-Unser für sich selbst, also lautlos zu kommemorieren. Vielleicht hatte ich mich schon innerlich bis zur Textstelle vorgebetet: „Fiat voluntas tua“ /Dein Wille geschehe, oder war es bereits das "Libera nos a malo/ erlöse uns vom Übel!... Nein, es muss faktisch die 'Befreiung vom Bösen' gewesen sein, denn in die totale und andächtige Stille im Saal plätscherte es plötzlich aus heiterem Himmel wie das Rauschen eines entfesselten Wildbaches, das dann aber in der aufgeregten Stimme des Mitbewerbers unterging, : „Guschtl, heb'n zue!“ Mittlerweile anerzogenes Taktgefühl wie auch das an dieser Stelle verhängte Silentium untersagten die Nachfrage, ob denn die strenge Oktoberkälte neben den blaugefrorenen Beinen auch eine Blasenentzündung im Gepäck gehabt hatte. Auch war ich mir beileibe nicht sicher war, ob man die so gut verpackten, niederen Körperteile – mitleidige Gesinnung hin oder her – überhaupt erwähnen durfte.

Jochen Schulz, 5.5.2018 (zuerst veröffentlicht in der Festschrift zum 111. Jubliäum, 2013)

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