1957 war P. Dr. Franz Gypkens zum Provinzial der Deutschen Ordensprovinz gewählt
worden. Gypkens war durch zahlreiche Schriften über Afrika und die Afrikamission zu einem
maßgeblichen Vordenker geworden und er hatte in der Tat gute Ideen mitgebracht. Ein
Stichwort war AFRICANUM. Dahinter steckten mehrere Gedanken: Zum einen entstanden
unter diesem Namen Wohnheime in 17 deutschen Städten für afrikanische Studenten und
Praktikanten, sowie zum anderen eine Oberstufenschule für Schüler, die später in Afrika bzw.
der Afrikamission arbeiten, bestenfalls Weiße Väter werden wollen.
In den 60er Jahren nahmen die Schülerzahlen in den Weiße-Väter-Internaten (Schule und
angeschlossenes streng reglementiertes Wohnheim) kontinuierlich ab und es sollten neue
Wege erschlossen werden: Entsprechend wurden die früheren hauseigenen Schulen
aufgegeben und die Pennäler in öffentliche Schulen geschickt, so auch in Haigerloch. Damit
konnte man zudem Kosten einsparen. Andererseits führten diese öffentlichen Schulen in der
Regel zum Abitur, was einen Wechsel zur OIII in das Kreuzburg-Gymnasium nach
Großkrotzenburg hinfällig machte. Daher mussten für dieses Haus neue Perspektiven
erschlossen werden. Es entstand ab Ostern 1965 das GYMNASIUM AFRICANUM „für
afrikainteressierte Schüler der Oberstufe… Es sollen künftig in Schule und Internat nicht
mehr nur Schüler aufgenommen werden, die später als Seelsorger nach Afrika gehen wollen,
sondern auch solche, die in anderen akademischen Berufen in Afrika tätig werden wollen…“
(Seite 1). Erster Schulleiter wurde P. Freckmann (PAF), der als Pädagoge jahrelange
Erfahrungen an der Kreuzburg hatte. Das Thema Afrika sollte sich wie ein roter Faden durch
alle Fächer ziehen.
Man wollte im Gegensatz zu früheren Konzepten
die Erziehung möglichst frei gestalten: „Freie
Einteilung der Studierzeit, bei der es Überwachung
nicht gibt, Recht des Nichtstuns ohne Komfort,
freies und gebundenes Spiel, Pflege von
Liebhabereien … fördern die individuelle
Entwicklung.“ (Seite 2) Drei wichtige
Erziehungselemente werden gesetzt: „…die
selbsttätige Mitwirkung aller Schüler in möglichst
allen Bereichen des Schul- und des
Heimlebens…möglichst viele Arten musischen Tuns
mit einfachen Mitteln … Dazu kommt ausdrücklich
und täglich mindestens eine halbe Stunde
körperliche Arbeit …“ (Seite 5)
Auf den ersten Blick liest sich das Ganze sehr
modern und einladend für jungen Menschen. Hier
wurden Perspektiven eröffnet, die zuvor undenkbar
waren. Schaut man bloß oberflächlich auf die oben genannten Stichpunkte, schien das neue Konzept alles
Bisherige auf den Kopf zu stellen:
Bislang war der Tag und auch die Studienzeiten fest vorgeschrieben und da gab es kein
Entkommen aus dieser festen Ordnung. Damit das alles klappte, wurde die Einhaltung dieser
Ordnung streng kontrolliert. Die Studienzeiten hatte man im Klassensaal, der auch
gleichzeitig Studiersaal war, zu verbringen. Um dies konsequent durchzuführen, saß während
der Studienzeiten ein Schüler der obersten Klasse (OI) vorn am Pult und überwachte die
Schüler. Ein Verlassen des Saales war nicht erlaubt, man durfte sich allenfalls zur Toilette
abmelden, oder zu einem sonstigen „Dienstgeschäft“, z.B. Beichte in der Kapelle.
Liebhabereien zu pflegen war zuvor im Grunde undenkbar. Zunächst waren solche Hobbys
unter dem Aspekt der Nützlichkeit für die spätere Missionstätigkeit abzuwägen. Gut war alles,
was man in der Mission auch gebrauchen kann, entsprechend schlecht all das, was diesem
Ziel nicht entspricht. So spaltete mein Hobby Orgelbau die Patresschar. Einige sahen darin die
Möglichkeit, später in den Missionskirchen ordentliche Musikinstrumente zu pflegen,
während andere die Orgel für ein europäisches Instrument hielten, das eigentlich in keine
Buschkirche gehört. Hatten die Afrikaner doch ihre eigenen Instrumente, z.B. Trommel,
Flöten, Zupfgeigen, Perkussionsinstrumente u.a.m. und die galt es für den gottesdienstlichen
Einsatz zu kultivieren.
Gleiches galt für das musische Tun. Früher war die Norm bestimmt von den späteren
Einsatzmöglichkeiten in Afrika. Als Anregung für das musische Tun heißt es jetzt in der
Info-Broschüre: „An unterrichtlichen N e i g u n g s g r u p p en bestehen zur Zeit:
Instrumentalgruppe, vierstimmiger Chor, Lateinischer Choral, Arbeitskreis Laute und Lied,
Laienspielgruppe, Sozialkundlicher Arbeitskreis Afrikanische Informationen, gebildet von der
SMV unter Leitung eines Lehrers, Sportkreis Leichtathletik, Spielkreis Rasensport.“ (Seite
10) Bei dieser Auflistung wird die Handschrift von PAF deutlich, denn Laute und Lied sowie
Laienspielgruppe gehörten schon immer zu seinen bevorzugten Interessensgebieten.
Es war an interne und externe Schüler gedacht, da man offensichtlich von vorne herein der
Auffassung war, dass man allein mit internen Schülern eine solche spezielle Schule nicht
betreiben kann. Für die Externen galt nicht der besondere Afrikabezug: „Späteres berufliches
Interesse an Afrika wird von den externen Schülern nicht gefordert. – Die Externen sind in der SMV vertreten. Es steht ihnen frei, auch an außerordentlichen Unternehmungen der SMV
teilzunehmen.“ (Seite 10)
Stillschweigend geht das Schulkonzept davon aus, dass nur Jungen sowohl Internat als auch
Schule besuchen, von Mädchen ist nirgends die Rede. Immer sprechen die Texte von
Schülern oder Jungen. Die Aufnahme von Mädchen im Internat wäre auf jeden Fall absolut
undenkbar gewesen. Dass junge Frauen die Schule besuchen, wäre eigentlich recht
unkompliziert verlaufen, wenngleich sich hier sicher zahlreiche Probleme ergeben hätten, z.B.
Toilettenanlagen, Sport etc. Sicher haben die Gründungsväter hierin auch eine Gefahr für die
potentiellen Afrikamissionare gesehen, diese hatten ja zölibatär zu leben. Und das musste von
Anfang an gefördert werden.
Rück- und Vorderseite des Infoprospektes für das Gymnasium der Weißen Väter in
Großkrotzenburg
Betrachtet man das Konzept kritisch, spiegelt sich darin die folgende Genese: Gypkens hatte
eine geniale Idee, nämlich junge Leute für einen späteren Einsatz in der Entwicklungshilfe
und speziell in Afrika vorzubereiten. Für solch eine hehre Aufgaben kamen natürlich nur
ausgesuchte Kräfte in Frage. Diese Idee legte er in seiner überzeugenden Art Freckmann vor.
Dieser hatte dann das Konzept detailliert auszuarbeiten. Mit Freckmann hatte Gypkens
natürlich den idealen Mitarbeiter gefunden; denn PAF hatte jahrelange Schulerfahrung, war
gebildet und war ein treuer Weiße-Väter-Gefolgsmann. Mangels Schüler Anfang der 60er
Jahre hatte Freckmann die nötige Zeit, sich den neuen Zielen zuzuwenden.
Stand einmal das Grundkonzept, galt es, die Werbetrommel zu rühren, um in kurzer Zeit neue
Schüler für diese Einrichtung zu gewinnen. Dies war besonders wichtig, da die früheren
Zubringerschulen Haigerloch, Rietberg, Zaitzkofen jetzt keine Schüler mehr abgaben, gingen
die doch auf staatliche Gymnasien, die mit dem Abitur endeten. Ein umfangreicher
Informationsprospekt sollte Interessente anziehen. Man muss aber feststellen, dass die
Werbung für diese Schul- bzw. Internatsform einmal recht spät anlief und zum anderen auch
scheinbar sehr oberflächlich durchgeführt wurde. Eine solch relativ neue Schulform benötigt
einen langen, intensiven Vorlauf.
Von Anfang an machte der Schulträger, die Weißen Väter unter Vorsitz des Provinzials P.
Gypkens, die grundsätzliche Trennung zwischen Schülerheim und Gymnasium. Entsprechend
gibt es unterschiedlich Aufnahmebedingungen. Ausführlich beschreibt die Broschüre in
Kapitel V die Bedingungen für die Aufnahme in das Schülerheim: Der künftige Schüler sollte
den Wunsch mitbringen, Afrika zu dienen. Er sollte eine echte religiöse Lebensgestaltung
sowie ein gesundes Urteil besitzen und zu einer einfachen Lebensweise bereit sein. Freilich
muss der auch gesund sein und die lebensnotwendigen Dingen, wie Kleidung und Bettwäsche mitbringen. Die Pensionskosten betragen 1 600 DM im Jahr, was in Raten gezahlt werden
kann. Dies macht monatlich etwa 133 DM aus und ist eine Verdoppelung des früheren
Kostensatzes. In Punkt 4 der Aufnahmebedingungen heißt es: „Der Heimschüler des GA (sc.
Gymnasium Africanum) muß wenigstens befriedigende Anlagen zum Studieren haben,
einsichtigen Fleiß aufbringen und merklichen Sinn für Ordnung entfalten“ (Seite 6).
Betrachtet man diese drei Anforderungen kritisch, ist leicht zu erkennen, dass diese nicht
messbar und damit nicht verifizierbar sind. Es handelt sich hier um einen höchst vagen
Rahmen, der weitgehend subjektiver Einschätzung unterliegt.
Insbesondere wurde eine einfache Lebensweise von dem Schüler im Wohnheim gefordert:
„Ein Luxushotel ist das Schülerheim das GA nicht…Die Wohnweise ist ohne Komfort,
Schlafgelegenheit in schlichten Gruppensälen.“ (Seite 6) Dies sollte mit Recht verhindern,
dass verwöhnte Knäblein aus der sogenannten Oberschicht sich hier einnisten und dann
irgendwie zum Abitur getragen werden. Diesem Ziel entsprachen auch die weiteren
Anweisungen: „Auto und Reitpferd, Moped und Fahrrad, Kanu und Skier, wilde Schallplatten
und ebensolche Bücher und Illustrierte bringt kein Schüler mit. … Wer Gesellschaftstanz
lernen und pflegen will, mag das in den Ferien tun.“ (Seite 7)
Dazu kamen noch die Aufnahmebedingungen für das neusprachliche Gymnasium
AFRICANUM. Gedacht war es für solche Schüler, die bislang wenigstens befriedigende
Zensuren aufweisen konnten und die entsprechende Vorbedingungen erbrachten, z.B. Latein
ab Klasse 7. Das Thema Afrika soll sich wie ein roter Faden durch alle Fächer ziehen.
Ansonsten gelten die in Hessen üblichen Bedingungen der Oberstufe. Pflichtfächer waren
„Religion, Deutsch, Sozialkunde, Geschichte, Erdkunde, Englisch, Latein, Mathematik,
Physik, Chemie, Biologie, Kunsterziehung, Musik und Leibeserziehung. Als zusätzliche
freiwillige Unterrichtsveranstaltungen werden angeboten… Griechisch…Französisch …
Physikalische Arbeitsgemeinschaften in Atomlehre und Funkwesen; Philosophie“ (Seite 7)
Wie bereits erwähnt, stammt die Grundidee zu dieser Schulform von Gypkens. Vermutlich
hat dieser in einem „großen Wurf“ sein gedankliches Konzept auf den Tisch gelegt und P.
Freckmann, unterstützt von P. Engelbert (PENG) sollte die Detailarbeit machen. Betrachtet
man heute aus der Retrospektive – und nur aus dieser kann man zu dem vorliegenden Urteil
kommen – war das Ganze a priori zum Scheitern verurteilt, zumal pädagogische,
anthropologische und soziologische Aspekte zu wenig Beachtung fanden; im Einzelnen:
Als reine Oberstufenschule brauchte das GA zahlreiche Zubringerschulen. In Frage
kamen da zunächst die Schulen in Haigerloch und Rietberg. Allerdings bestand zu
dieser Zeit nicht mehr das alte Progymnasium in Haigerloch, sondern die
Missionsschüler besuchten bereits dort ein öffentliches Gymnasium, das auch zum
Abitur führt.
Schüler, die in der Mittelstufe noch mit Lernschwierigkeiten zu kämpfen hatten, die
sich später möglicherweise relativierten, hatten wegen des faktischen,
notenabhängigen Numerus clausus keine Chance, in die Schule zu kommen.
Nach dem erfolgreichen Besuch der sechs ersten gymnasialen Klassen (Sexta bis
Untersekunda) hat man sich in der Regel in einer Schule eingelebt, sich arrangiert,
Freunde gefunden etc. Dass man dann quasi in eine black box einsteigt, um sich auf
eine Tätigkeit in Afrika vorzubereiten, ist mehr als unwahrscheinlich.
Das Internat brachte einige Einschränkungen für die Zöglinge mit sich. Gerade im
Alter von 16 bis 19 Jahren steht man solchen Maßnahmen äußerst kritisch gegenüber.
Die Zielvorstellung „späterer beruflicher Einsatz in Afrika“ ist zu vage. Es mag dies
für künftige Missionare interessant sein; aber Aspiranten für diesen Einsatz gab es zu
wenige; eine eigene Schule für dieses Klientel zu schaffen, ist unrealistisch.
In den sechziger Jahren herrschte bei den Jugendlichen eine besondere Auf- und
Ausbruchsstimmung, dem konnte das GA-Konzept nicht entsprechen.
Eine solche Schule braucht Renommee, guter Ruf, Erfolge, Bekanntheitsgrad u.a.m.
Dies lässt sich nicht auf Kommando erreichen. Auf Grund der kurzen Vorlaufzeit
fehlte die nötige Basis.
Nachdem es sich alsbald zeigte, dass das Konzept GYMNASIUM AFRICANUM gescheitert
war, wollten die Weißen Väter die Gebäude schnell los werden und es wurde 1967 an die
Franziskaner verkauft, die dort nach entsprechenden Umbaumaßnahmen ein florierendes Gymnasium einrichteten. Im
Winter 1966/67 war ich im Noviziat in Hörstel; für einige Wochen wurden wir Novizen
abgeordnet, das Haus vor der Übergabe radikal leerzuräumen. Mit „blutendem Herzen“ habe
ich da vieles vernichten müssen, was mir und auch anderen Kameraden Jahre zuvor heilig
gewesen war (siehe dazu auch den Beitrag P.Gypkens unter Erinnerungen).
Zusammenfassend stelle ich fest, dass Gypkens auf Grund seines Hochmutes und seiner
Hybris schwere Fehler gemacht hat, die gravierende Folgen für die gesamte Weiße-Väter-
Provinz nach sich zogen. Nicht nur Idee und Realisation GYMNASIUM AFRICANUM ist
gescheitert, sondern auch die Wohnheime AFRICANUM. Diese sollten afrikanischen
Studenten als ideale Wohnmöglichkeiten dienen, währenddessen sie in Deutschland
studierten, um dann nach dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung nach Afrika
zurückzukehren. Viele Fakten zeigten, dass sich dies nicht so einfach umsetzen lässt. Und
somit war auch schnell die Wohnheimidee gestorben und das Ganze erwies sich als Luftblase.
Die Provinz blieb auf den Kosten sitzen.
(Anmerkung: Die im Text angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Schrift:
Informationen über das GYMNASIUM AFRICANUM und sein Schülerheim in
Grosskrotzenburg – Kreis Hanau, Großkrotzenburg, o.J.)