Konviktsdirektor Anton Klinger, Königstein

Ein Mann für alle Fälle und ein spätes „Vergelt`s Gott“


Anton KLinger Der „Toni“. Längst nicht jeder wusste, wie er wirklich heißt. Aber fast jeder in großem Umkreis um das Albertus-Magnus-Kolleg in Königstein wusste, wer mit „Toni“ gemeint war. Selbst in den hintersten Ecken der damaligen Bundesrepublik Deutschland, in den Elternhäusern der Internatsschüler zwischen Sylt und Saulgau, zwischen Regensburg und Recklinghausen, zwischen Hannover und Haigerloch - da konnte man mit „Toni“ was anfangen.
Er war Jahrgang 1919. Über das, was der junge Mann vom Dritten Reich und vom Zweiten Weltkrieg mitbekommen hat, hat er nie gesprochen. Er stammte aus dem Sudetenland, war mit seinen Eltern und seinem Bruder heimatvertrieben worden und eines Tages als junger Priester im Konvikt in Königstein gelandet.
Wollte man die Menschen, die für uns Buben in Königstein Verantwortung übernommen haben, mal mit einer Fußballmannschaft vergleichen, dann spielte Toni im zentralen Mittelfeld. Er war Trainer und Mannschaftskapitän zugleich. Er lobte und tadelte, gab die Richtung vor, eröffnete Räume, war im Notfall der Ausputzer und in manchen Fällen auch der Vollstrecker. Er war nicht aufdringlich, nicht allgegenwärtig. Aber in seinen beiden Zimmern im ersten Stock waren Herz und Hirn des Betriebes. Natürlich hatte Toni auch seine schwachen Seiten. Alle Väter machen Fehler. Egal ob sie Vater einer Familie sind oder Vater von 200-300 Buben und heranwachsenden jungen Männern. Ja, er konnte zornig werden und auf den Tisch hauen. Dann wurde es stille im Saal und der Verputz bekam Risse. Wenn man ihm dann auf dem Flur begegnete, hochroter Kopf, den Blick am Boden, dann war es keine gute Idee, ihn wegen einer Lappalie anzusprechen oder zu fragen, wie`s geht. Kam er aber lächelnd daher, mit dem Kopf nach links und rechts schaukelnd, mit einem freundschaftlichen Boxhieb für den Kleinen, dann wusste man: Das Wetter ist gut, der Kapitän steht auf der Brücke, er hat alles im Griff und das Meer ist so glatt wie im Nichtschwimmerbecken des Königsteiner Freibads.
Ja, und ein bisschen eitel war er wohl auch. Immer gepflegt, ob im Priestergewand oder auf der Straße, kurzbehost auf dem Weg zum Faustballspiel oder im Bademantel auf dem Weg zur Dusche. Er war immer auf einen gewissen Abstand bedacht, auf gegenseitige Achtung und Respekt. Verbrüderungsszenen kennt man von ihm nicht. Er hatte Humor und viel Charme. Ein bisschen der Salonlöwe war er auch, der sich gerne mal bei einem Glas Wein und einer Zigarre zurücklehnte oder auch das Tanzbein schwang. Tanzen konnte er gut, wie seine Buben zugeben mussten.
Was er an Verantwortung zu tragen hatte und wie er sie trug, erscheint aus heutiger Sicht nahezu unglaublich. Den meisten Eltern hatte er ja mal bei irgendeiner Anmeldung und Begegnung versprochen: Euer Sohn soll`s gut bei uns haben. Wir geben auf ihn und seine Entwicklung acht. Ich habe ein Auge auf ihn. Und ein Ohr, wenn er das mal braucht, weil er seine Eltern ja nur in den Ferien sieht. Man darf davon ausgehen, dass er das sehr ernstgenommen und wohl manchmal schlecht geschlafen hat. Was Buben im entsprechenden Alter alles an Streichen und Dummheiten und Mutproben einfallen kann, weiß wohl nur der, der selber mal einer war. Toni war wohl ein Meister darin, einerseits Regeln aufzustellen und zu überwachen, und andererseits mit großem Verständnis und einem großen Herzen über die krummen Dinger seiner kleinen Ganoven hinwegzusehen. Manchen hat er gewiss herausgehauen und ihm nach seinem Fauxpas ein Leben danach ermöglicht, eine neue Chance gegeben. Natürlich kann es ihm nicht entgangen sein, dass die Redakteure der Schülerzeitung regelmäßig im Nachbarhaus noch gegen Mitternacht an ihrer Arbeit waren oder in ihrem Fotolabor gesessen haben, um dann irgendwann durch ein zufällig offenstehendes Fenster wieder ins Haus und in ihr Bett zu kommen. Oder dass drei Obersekundaner wieder die abendliche Andacht geschwänzt haben, um stattdessen in einem Kellerraum die Schlager-Hitparade des Hessischen Rundfunks zu hören – keine Lieder, die vom Musikdirektor als kleine Nachtmusik empfohlen worden waren. Oder dass die angemeldete Nachtwanderung der Pfadfinder am Falkensteiner Burgberg zu einer gut inszenierten, aber keineswegs ungefährlichen Mutprobe genutzt wurde. Nein. Toni wusste eigentlich alles. Dann sprach er nicht drüber. Viel konnte man ihm nicht verheimlichen. Und schon gar nicht, wenn sich mal wieder ein Bauer aus Neuenhain beim ihm beschwerte, weil er in der vergangenen Nacht mit seinem Hund ein paar Primaner beim Kirschenessen in seinen Bäumen erwischt hatte. Natürlich musste Toni die Übertäter vorladen – und sein Zorn traf sie auch deshalb, weil sie sich hatten erwischen lassen.
Toni kannte seine Pappenheimer und wusste, wen er vorladen musste und wer sensibel genug war, selber aus seinem Tun zu lernen. Schließlich gab es ja neben dem „Schulzeugnis“ auch noch das von ihm unterschriebene „Hauszeugnis“ zweimal im Jahr. Da musste man ja auch irgendwann seinen Eltern erklären, wie die Noten in Betragen, Fleiß, Sauberkeit und Ordnung sowie Gemeinschaftssinn zustande gekommen sind.
Dem Schreiber dieser Zeilen ist eine absolut harmlose Episode ein Leben lang in Erinnerung geblieben, die das Bild auf „Toni“ abrunden soll:
1964 war unten an der Autobahn nach Frankfurt das Main-Taunus-Zentrum eröffnet worden. Mit großem Spektakel, deutschlandweit einzigartig. Das musste man auch als Internatsschüler mal gesehen haben, auch wenn das Geld fehlte, um dort wirklich etwas einkaufen zu können. Drei Möglichkeiten gab es, um dort hinzukommen. Erste Möglichkeit: Laufen. 12 km. Das war etwas mühsam, aber für einen jungen Mann zu schaffen. Zweite Möglichkeit: Der Linienbus. Aber der kostete teures Taschengeld. Und die dritte Möglichkeit gab es eigentlich gar nicht: Per Anhalter. Das kam nicht in Frage, das war streng verboten. Man hatte schon schlimme Geschichten gehört.
Jedenfalls war ich irgendwann auf dem Rückweg vom Main-Taunus-Zentrum. Ein Autofahrer hinter mir muss die Bewegung meines ausgestreckten linken Armes mit dem erhobenen Daumen falsch verstanden haben. Eine nagelneue Ford-Limousine fuhr vor mir an den rechten Straßenrand. Ein kurzer Sprint, die Beifahrertür ging von alleine auf, eine Hand lud mich zum Einsteigen ein.
Es dauerte wohl eine Weile, bis ich wieder zu mir kam. Der Mann am Steuer, der mich keines Blickes würdigte und kein Wort mit mir sprach, war Konviktsdirektor Anton Klinger. Der Ford fuhr los. Sulzbach, Bad Soden, Neuenhain. Auf der Scheibe vor mir lief noch einmal mein Leben ab: Mein Dorf, mein Elternhaus, meine Familie, wo man sich darauf verließ, dass ich keinen Quatsch mache. Und jetzt war ich Trottel in das Auto des Mannes eingestiegen, der das Trampen streng verboten hatte. Ich malte mir aus, was nun passieren würde. Los ging es vermutlich mit einem fürchterlichen Donnerwetter, dann würde sich eine Strafe abzeichnen, mit Sicherheit – und das war für mich das Schlimmste – würden meine Eltern informiert oder gar einbestellt. Ich beschloss, nach Ausreden oder mildernden Umständen gar nicht erst zu suchen. Die Sache war eindeutig.
Aber: Nichts geschah. Nicht ein Wort fiel, bis wir am Unterhaus in Königstein angekommen waren. Die Freunde, die auf der Straße Fußball spielten und ehrfürchtig Platz machten für das Auto, wunderten sich wohl, als ich dort ausstieg. „Danke für`s Mitnehmen“, konnte ich noch ziemlich kleinklaut loswerden. Und da schaute mich mein Fahrer zum ersten Mal an und sagte nachdrücklich: „Ich will kein Danke. Ich will ein Vergelt's Gott. Die Vergelt's Gott sammle ich für die Ewigkeit.“ „Toni“ hat dieses Erlebnis nicht mehr angesprochen. Am nächsten Tag nicht, in den nächsten Wochen nicht. Nie mehr. Natürlich habe ich mich eine ganze Weile sicherheitshalber zusammengerissen, um nicht wieder aufzufallen. Er aber schien es wirklich vergessen zu wollen, und Normalität und Respekt kehrten in den Alltag zurück.
Als ich viel Jahre später ein Berufsleben lang selbst Menschen zu führen hatte, große und kleine und komische und schwierige, habe ich oft an die Lehre gedacht, die ich aus dieser Geschichte wohl lernen sollte und gelernt habe. Erziehung durch Vorbild kann manchmal so einfach sein. Und so lautlos. Und so nachhaltig…
Wer heute über die A 9 in Richtung München fährt, der findet hinter Ingolstadt eine Abfahrt in das Städtchen Geisenfeld. Da halte ich gerne einmal. Dort auf dem städtischen Friedhof ruht in einem Priestergrab seit 2004 der Monsignore Anton Klinger. Unser „Toni“.

„Ede“ (AbiJahrgang 67)
Zurück zu Erinnerungen