Besuch der Missionsschule in Rietberg

Trennung von Eltern und Geschwistern

Es kam der 12. April 1947, der letzte Termin für die feste Zusage zum Besuch des Gymnasiums in Rietberg. Ich glaubte schon fast nicht mehr daran, dass Mutter mit mir zu den Weißen Vätern fahren würde. Aber an diesem Tag musste man persönlich zur Anmeldung in der Schule erscheinen. Meine Mutter war jedoch nicht gut zurecht und sagte zu mir: »Junge, wenn ich nur eine Tasse Bohnenkaffee hätte, dann könnte ich mich zu der Radfahrt aufrappeln.« Missmutig und bedrückt ging ich an die Frühjahrsarbeit zu den Blumenbeeten im Garten. In einer Ecke fand ich an diesem frühen Vormittag ein kleines, fingerlanges zweiblättriges Pflänzchen. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass es ein kleines Kastanienbäumchen war. Froh darüber, so etwas gefunden zu haben, rannte ich ins Haus. Als ich die Deelentür erreichte, sah ich einen Mann dort stehen, der kleine Tütchen mit Bohnenkaffee anpries. Mutter kaufte ihm eine Tüte ab, kochte sich eine gute Tasse Bohnenkaffee, den es in dieser Zeit nur selten gab, und stieg aufs Fahrrad: Nun fuhren wir tatsächlich doch noch zur Anmeldung nach Rietberg! Sollte diese Sache mit dem Kaffee ein Zufall oder gar eine Fügung Gottes gewesen sein? Wenn der Bohnenkaffee nicht gewesen wäre, wäre ich vielleicht niemals zu einer höheren Schule gekommen! Am 7. Mai 1947 sollte meine Aufnahme im Missionshaus stattfinden. Der Abschied von zu Hause war sehr schwer für mich und meine Geschwister. Alle weinten wir. Noch nie war ich von zu Hause weg gewesen. Es war das erste Mal, dass ich nun in einem fremden Hause übernachten und bleiben sollte. Aber ich wollte es ja auch. Meine Eltern fuhren mit mir nach Rietberg. Ich saß vorn auf Vaters Fahrrad. Stillschweigend fuhren wir auf der B 64 über Westenholz meinem zukünftigen Wohnort Rietberg zu. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde. Schließlich waren wir vor dem Missionshaus angelangt. Selten hatte ich in der damaligen Zeit ein solch großes und komplexes Gebäude gesehen.
Rietberg
Wir schellten an der großen Missionshauspforte. Ein kleiner Mann, bekleidet mit einem weißen Missionsgewand, öffnete uns die Tür. Freundlich wurden wir vom ihm, Pater Albert Straub, dem Superior des Hauses, empfangen und begrüßt. Ich schaute ihn mit großen Augen an. In seinem weit wallenden Gewand machte er auf mich einen gewaltigen Eindruck. Dieses Obergewand nennt man Burnus; darunter trug er ein langes, eng anliegendes Unterkleid, die sogenannte Gandura. Auf seiner Brust hing ein abwechselnd mit schwarzen und weißen Perlen besetzter Rosenkranz mit seinen 15 Gesätzen. In seiner Hand hielt er eine rote Stehkappe, den Fez, wie die Nordafrikaner ihn auch tragen. Durch seine kleine, mit einem Goldrand versehene Brille musterte P. Straub mich von oben bis unten. So gelangten wir in das Innere des Gebäudes, in den Missionshausflur. Auf einem Sockel oben an der Wand entdeckte ich eine wunderschöne Muttergottesstatue. Nach jedem Mittagessen beteten wir vor ihr ein Ave Maria für die Missionare im fernen Afrika. Auf der rechten Seite, in einem Säulenbogen, kroch eine ausgestopfte riesige afrikanische Boaschlange an einem starken Ast hoch. Auf der linken Seite des Flures hing eine etwa zwei Meter große Afrikareliefkarte an der Wand, die mit Menschen-, Tierund Pflanzenwelt ausgestattet war. Kurzum, wir befanden uns in einem afrikanisch angehauchten Missionshaus. P. Straub ging mit mir und meinen Eltern seitlich die steinerne Treppe nach oben zur Hauskapelle. Dort beteten wir ein Vaterunser und ein Ave Maria für die Missionare, meine Eltern und auch um eine erfolgreiche Zukunft für mich. Inzwischen war es Mittag geworden. P. Superior führte mich mit den anderen Neulingen in das geräumige Refektorium, den Speisesaal. Die anderen Patres des Hauses, die Brüder sowie die jungen, in Weiß gekleideten Novizen stellten sich um die langen, aneinandergereihten Tische. Das Mittagsgebet wurde von P. Superior stehend und in lateinischer Sprache gesprochen. Meine Eltern wurden mit noch anderen Müttern und Vätern in zwei Gästezimmer geführt, wo sie ihre Mahlzeit einnahmen. Das Essen schmeckte mir sehr gut. Was dies angeht, war ich kein verwöhnter Junge. Zu meinem Erstaunen gab es zum Nachtisch Reis mit Zimt und Zucker überstreut, eine meiner Lieblingsspeisen, auch heute noch.

Nach dem Essen drang der Hausobere darauf, dass die Eltern sich verabschieden sollten. Das ging dann sehr schnell. Mutter drückte mich fest an sich und weinte in sich hinein. Vater blieb standhaft, doch auch ihm standen Tränen in den Augen. Nun war ich zum ersten Mal in meinem Leben auf mich selbst, auf meine Mitschüler und die Patres im Hause angewiesen. In der ersten Nacht habe ich lange geweint. Ich drückte mein Gesicht ins Strohkissen und zog die Decke hoch, damit niemand etwas von meiner Traurigkeit merkte. Ich hatte große Sehnsucht nach meinen Eltern und Geschwistern.

Rietberg
Freise, Hans. Lebenswege hinterlassen Spuren (German Edition) (Kindle-Positionen969-973). Books on Demand. Kindle-Version.


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