Ehrenrunde für Basini

Anfänger und „Schwache“ hatten es im Missionshaus nicht immer gut im Kreis der Mitschüler. Sie wurden oft von ihnen gehänselt oder gequält. Bettnässer z.B., für die es vor meiner Zeit offenbar einen eigenen Schlafsaal gegeben hat. Später haben wir bei Adorno und Horkheimer gelernt, dass autoritäre Persönlichkeiten – die sog. „Radfahrer“ - den psychosozialen Druck immer nur nach unten weitergeben, also strampeln - und nach oben buckeln. Wie in Wolfgang Staudtes Film „Der Untertan“ (nach Heinrich Manns Roman), als Dieterich Heßling hinter der Kaiserkutsche her rennt und sich beim dauernden Bückling machen im Lauf den Hut vom Kopf reißt. Das war die gesellschaftliche Folie, gegen die die Studentenbewegung anti-autoritäre Erziehung und Emanzipation setzen wollte.

Anselm von Basini, einer der beiden Protagonisten aus Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, hatte einige Geschwister im Missionshaus, allerdings weniger aus gutbürgerlichem, als aus kleinbürgerlichem und bäuerlichen Milieu stammend. Der Druck von oben wurde aber genauso gern nach unten weitergereicht und konnte gelegentlich sadistische Züge erreichen. Genauso, wie bei einigen Lehrern. Nur, was ich nie erlebt habe, war sexueller Missbrauch, wie es in den letzten Jahren aus den Jesuiten-Internaten, etwa im benachbarten Kolleg St. Blasien, oder der „Odenwaldschule“ bekannt wurde. In Haigerloch kam sexueller Missbrauch weder auf Seiten der Schüler, noch auf Seiten der Lehrer vor, zumindest in der Zeit, die ich überblicken kann. Nur von sexuell gefärbte Prügelstrafen mit dem Stock auf den nackten Po habe ich unter „Pilo“ berichtet. Und Klaus Moser erzählt von einer besonderen Peep-Show, als er nämlich durchs Schlüsselloch Pilo einen Schüler - über den Stuhl gebückt - auf den nackten Po prügeln sah. Insofern waren die Verwirrungen des Zöglings Törleß bei uns grundsätzlich ohne den Bodensatz des sexuellen Missbrauchs. Nur einvernehmliche sexuelle Spiele fanden „natürlich-heimlich“ auch unter neugierigen Schülern statt. Beim wöchentlichen Warmduschen im Keller wird auch von unter der Zellwand durchgesteckten Spiegeln berichtet, was – wenn entdeckt - halblaute Protestrufe oder einen Tritt auf das Glas provozierte. Männliche Sexspiele, wie sie die Age group bei den Kikuyus in Kenya praktizierte und von Jomo Kenyatta in seiner Magisterarbeit bei Boris Malinowski beschrieben sind (veröffentlicht als „Facing Mount Kenya, S. 162), können kulturübergreifend auch aus Haigerloch berichtet werden.

Für jeden Neuen begann eine gefährliche Zeit. Kaum waren die heimlichen Tränen beim Abschied der Eltern getrocknet (so ging es mir), als in den Abendstunden die Großen lauerten. Es galt den Initiationsritus zu zelebrieren, dem man noch kurz zuvor selbst zum Opfer gefallen war. Zwei Methoden wurden traditionell wohl bevorzugt angewandt. Die erste war der Bock. In der Wandelhalle standen die spärlichen Turngeräte und der lederbespannte Springbock war das ausersehene Ziel der Traditionalisten. Erst galt es aber einen der neuen Schüler zu fangen. Ein paar Ältere stürzte sich auf den Kleinen, verdrehte ihm die Arme nach hinten und führte den Delinquenten zur Hinrichtungsstätte. Dort wurde er bäuchlings auf den Bock geworfen, von kräftigen Jungenfäusten an den vier Extremitäten gepackt, ins Quadrat gezogen und los prasselten die Hiebe mit der flachen Hand auf das kleine Gesäß. Klagen und Schreien gab’s nicht, denn man bot sonst an, noch härter mit der Faust ins Gesicht zu schlagen – man wollte schließlich keinen Pater dabeihaben, der das unterbunden hätte. War die sadistische Jungen-Lust befriedigt, ließ man von Basini ab und er konnte sich nun - initiiert in den Kreis der erlauchten Missionsschüler – verkrümel. Ich erinnere mich gut an beide Stellungen, zuerst natürlich an die auf und dann später – leider! - vor dem Bock.

Die zweite Tor-Tour bestand aus der sog. „Ehrenrunde“. Das Opfer musste mit nach hinten gedrehten Armen gebückt – wie Heßling im „Untertan“ – eine Runde ums Haus laufen; allerdings war es eher zweimal eine Dreiviertelrunde, damit man nicht über den Innenhof musste, wo ein aufsichtsführender Pater die Qual beendet hätte. Im Bücklauf hatte das Opfer allerlei lästerliche Sprüche oder Schubse über sich ergehen zu lassen. Devote Rufe der Unterwerfung waren den Peinigern höchst willkommen und konnten dem Opfer Milde oder Gnade erbringen. Begann es jedoch gegen die juvenile Autorität aufzubegehren, zu schimpfen oder zu zappeln oder aber zu weinen, dann drohte ihm obendrein der schmerzliche Absturz in den Brennesselgraben auf der Talseite des Hauses. Solche Ehrenrunden konnten jederzeit auch im Jahr veranstaltet werden. Opfer gab es genug und Täter auch.

Dabei schienen die Großen immer eine Art Durchgriffsrecht auf die Kleineren zu haben. Auch im offiziellen System wurden die Großen ja als Tutoren oder Kontrolleure eingesetzt. Das setzte sich also im inoffiziellen System fort. So schauten die Kleinen ängstlich oder auch bewundernd auf die Großen. B. schrieb mir in einer Email: „Ich kam als kleiner Sextaner nach Haigerloch, als Du bereits in der Untersekunda warst. Irgendwie haben wir Kleinen Euch Große ja schon bewundert; dahin wollten wir auch kommen, d.h. die kleinen Privilegien erringen, z.B. nach dem Zähneputzen im Schlafanzug nochmals im Studiensaal lesen dürfen ...“ Und kaum einer wagte diese scheinbar gottgegebene Ordnung zu durchbrechen. Ein „Kleiner“ hat es dann zumindest bei mir doch gewagt. Im Rahmen einer längeren Streiterei, in der ich ihm Prügel androhte, befreite sich der kleine W. mit einem einzigen Schlag auf mein Kinn von der Vorherrschaft der Großen. Ich ging vor dem Refektorium benebelt zu Boden. Die männliche Hackordnung war hegestellt.

Betrachte ich ein Gruppenfoto aus dieser Zeit, dann sehe ich einen Missionschüler, der nur wenige Monate bei uns war. Ein schmales, stilles Büble, auch von der Enuresis betroffen, mit idealer Opferhaltung schaut in die Kamera. Warum er so schnell ausschied, weiß ich nicht wirklich. Ich weiß nur, dass auch wir Schüler ihm das Leben sehr schwer gemacht, dass wir ihn wohl gemobbt haben. Denn so eine Opferhaltung ruft nur allzu rasch die Mobber auf den Plan. Das Büble verwandelte sich nach wenigen bösen Worten und einem bejohlten Knuff in einen schluchzenden Jammerlappen, das perfekte Freiwild für das Gespött und die Aggressionsabfuhr seiner sog. „Kameraden“. Ich habe bei diesem bösen Spiel wohl auch mitgemacht und bin dem Schwachen nicht zum Beschützer geworden, so wie Demian das für Hesses Sinclair in der gleichnamigen Erzählung „Demian“ wurde. Törleß war in diesem Fall wohl „stärker“. Bei den Pfadfindern, die Anfang der 60er spärlich ins Missionshaus einzogen und wo ich bei der DPSG (den katholischen St.-Georgs-Pfadfindern) Mitglied wurde, war der Anspruch auf Schutz des Kleinen durch den Großen schon im Pfadfindergruß ausgedrückt: Die rechte Hand legt den Daumen über den kleinen Finger. Im Missionshaus galt dagegen nur das Prinzip „Semper tres“, also keine „Privatfreundschaften“. Also stürzten sich – falsch verstanden - mindestens immer drei Große auf einen Kleinen.

Raimund Pousset (1959 – 1963)

Zurück zu Erinnerungen